„stille“, Ein theaterpädagogisches Projekt

Thema

Es soll persönlich sein, nicht privat

Das theaterpädagogische Projekt „stille“ eines jungen Kollektivs an der Berliner Schaubühne stößt über die Erprobung einer verlorenen Selbstwirksamkeit auf verstummte Forderungen an eine krisengeflutete Gegenwart. Premiere: 16.5.25

Foto oben: Gianmarco Bresadola
Beitrag von: am 15.05.2025

Auf der Probebühne der Schaubühne am Lehniner Platz stehen ein paar Stühle und ein Klavier. Sechs junge Menschen haben sich im Raum verteilt; manche sitzen, andere stehen. Sie sprechen einen Text, den sie selbst geschrieben haben. Es sind Forderungen – an die Gesellschaft, an ihr Leben, an eine Welt, die unaufhörlich von Krise zu Krise taumelt und dabei kaum mehr einen Platz für sie kennt. Doch die Jugendlichen schreien ihre Sätze nicht laut und kämpferisch in den Saal; ihre Stimmen beben und zittern nicht vor Wut. Vielmehr sprechen sie ruhig, beinahe zurückhaltend.

Das Projekt, an dem sie – das junge Kollektiv aus Spieler:innen zwischen 16 und 21 Jahren – derzeit gemeinsam arbeiten, trägt den Titel „stille“ und schaut auf eine bewegte Gegenwart: Zwischen den Folgen der Corona-Pandemie, einer fortschreitenden Klimakrise und massiven Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich, durch die auch ihr eigenes Projekt im Januar 2025 in finanzielle Bedrängnis gebracht wurde, sehen sich die jungen Menschen damit konfrontiert, dass ihre Stimmen nicht immer gehört werden. Dass sie in einer Gegenwart stehen, in der nicht immer ersichtlich ist, ob Widerstand und Protest zum Ziel führen können.

Die Geschichte eines Arbeitsprozesses

Ursprünglich trug das Projekt einen anderen Arbeitstitel: „Ost/West“. Mai-An Nguyen, Leiterin der Theaterpädagogik an der Schaubühne, hat das Thema an die Jugendlichen herangetragen. Sie selbst ist in Cottbus großgeworden und war an einer gemeinsamen Erkundung west- und ostdeutscher Perspektiven interessiert. Als wir uns nach der Probe für ein Gespräch zusammenfinden, erzählt mir die Gruppe von ihrem Arbeitsprozess: Zu Beginn gab es eine intensive Recherche-Phase, um sich dem Thema in Gesprächen und Schreibübungen zu nähern. Dabei merkten sie allmählich: Da sind nicht von jetzt auf gleich große Gefühle und starke Haltungen. Da ist etwas anderes. Ein Gefühl der Zurückhaltung? Eine Lähmung? Eine Stille?

Schaubühne am Lehniner Platz, "stille", Ein theaterpädagogisches Projekt. Spielleitung: Mai-An Nguyen, Bühne: Ulla Willis, Kostüme: Roxanne Töpper, Dramaturgie: Martín Valdés-Stauber. Mit: Franca Baumann, Lapo Biasutti, Mate Böckenhauer, Saliha Durmaz, Lukas Jänicke, Lea Kutscha, Melina Petersen, Emilia Puchert Premiere am 16. Mai 2025 „stille“, Schaubühne am Lehniner Platz. Foto: Gianmarco Bresadola

Gemeinsam mit Mai-An beschloss die Gruppe daraufhin, dieser Beobachtung nachzugehen. Woher kommt die Stille? Was beschäftigt die Spieler:innen gerade eigentlich? „Die Jugendlichen sind total auf sich zurückgeworfen. Zwischen den ganzen Krisen bleibt ihnen nichts anderes übrig als mitzuschwimmen. Ihnen wurde das Gefühl von Selbstwirksamkeit genommen“, erzählt Mai-An. Selbstwirksamkeit – das ist eine entscheidende Komponente innerhalb einer gesunden Psyche; eine entscheidende Komponente in der Navigation einer komplexen Gegenwart. Und um Selbstwirksamkeit zu stärken, muss sie praktiziert werden. Im Laufe unseres Gespräches stellt sich heraus, dass das junge Kollektiv und ihre forschende Arbeit an der eigenen „Stille“ ein Beispiel für eine ebensolche Praxis sind.

Der Weg zum Ausdruck

Während der Probe fragt Mai-An eine junge Spielerin, ob sie sich in der zuvor geprobten Szene mit ihrer Position im Raum wohlgefühlt hat. Gemeinsam überlegen sie, wie sich der Text am besten sprechen lässt: sitzend, stehend oder doch an die Säule gelehnt? Mai-An möchte, dass die Jugendlichen die Probebühne als einen Ort der praktizierten Selbstwirksamkeit für sich behaupten: „Dabei zählt nicht nur der Moment, in dem sie es auf der Bühne sagen, sondern auch der Moment, in dem sie es auf der Probe zu mir sagen“, betont sie. Und das Selbstbewusstsein, das es hierfür braucht, wird nicht von einer Sekunde auf die andere den Jugendlichen abverlangt, sondern erwächst aus einem simplen Grundprinzip. Zuerst wird dafür gesorgt, dass sich möglichst alle wohlfühlen – mit der Position im Raum, dem Kostüm, dem Text. Von dort aus wird geschaut, wie und wohin sich am besten wachsen und arbeiten lässt.

„stille“, Schaubühne am Lehniner Platz. Foto: Gianmarco Bresadola

„Es geht darum, dass wir hier gemeinsam einen Ort haben, an dem wir Sachen freilassen können.“, erzählt mir Lukas Jänicke, der neben der Schule als Spieler in diesem Projekt mitwirkt. Er erzählt von den Schreibaufgaben, mit denen die Jugendlichen dazu eingeladen werden, sich im Text auszudrücken. Als ich die Jugendlichen daraufhin frage, wie sie in diesem Zusammenhang entscheiden, was sie von sich selbst in den Texten und auf der Bühne teilen wollen, antwortet Lapo Biasutti: „Ich würde sagen, es ist eine Figur meiner selbst. Eine verstärkte Version meiner selbst. Sie kann etwas ausdrücken, was ich im echten Leben nicht ausdrücken kann. Das heißt nicht, dass alles, was ich auf der Bühne sage, meine Meinung ist. Aber wir werden hier gehört.“ An der Differenziertheit dieser Perspektive wird deutlich, wie reflektiert dieses Kollektiv arbeitet.

Feine Nuancen

„Es soll persönlich sein, nicht privat. Das sind manchmal ganz feine Nuancen. Das müssen wir dann auf der Probe gemeinsam rausfinden“, ergänzt Mai-An. Dabei geht es nicht zwangsläufig darum, die Jugendlichen bestmöglich auf einen Werdegang an der Schauspielschule vorzubereiten. Wenn sich das ergibt, ist es schön; aber es müsse nicht sein, meint sie. Überzeugt erzählt Lapo: „Ich habe bei der Arbeit hier gemerkt, dass ich gar nicht Schauspieler werden will. Es geht mir darum, einen Ausdruck zu finden. Das kann auch bedeuten, auf der Bühne zu zeichnen.“

Gesagt, getan: Während der Probe arbeiten die Jugendlichen an einer Szene, in der Lapo den Berliner Alexanderplatz auf die Folie eines Overhead-Projektors malt. Eigentlich ist es ganz einfach; in Mai-Ans Worten: „Es gibt nicht die höhere Schauspielkunst, an die sich die Jugendlichen anpassen müssen. Es ist andersrum: Das Schauspiel soll den Jugendlichen dienen und nicht die Jugendlichen dem Schauspiel.“ Wohin dieser Grundsatz die Arbeit des Kollektivs geführt hat und welchen Forderungen die Jugendlichen einen Raum geben wollen, wird bei der Premiere von „stille“ am 16. Mai in der Schaubühne für die Öffentlichkeit sichtbar.

 

Foto: privat

Sophie-Margarete Schuster, geboren 2001 in Frankfurt am Main. Regie-Hospitanz an der Volksbühne Berlin (2020). Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ehrenamtliche Mithilfe in transnationalen Theaterprojekten der KULA Compagnie. 2023 erstmals journalistisch für „Theater der Zeit“ aktiv und freiberuflich als Lektorin für den Verlag. Teilnahme am Radikal Blog des Theaterfestivals Radikal Jung 2024 und der Akademie für Zeitgenössischen Theaterjournalismus 2024/2025. Seit Sommer 2024 außerdem als Mitarbeiterin der Social Media- und Online-Redaktion der jungen bühne tätig.