Kritik

„Neuland“ am Jungen Theater Heidelberg

Premiere: 23.02.2021

Foto oben: Susanne Reichardt
Beitrag von: am 24.02.2021

Neuland im Glasfasernetz

Das Theater Heidelberg erschafft in seiner Online-Performance „Neuland. Under construction“ eine Spielwiese, um gemeinsam mit einem jungen Publikum auszuprobieren, wie die Welt nach einem Neustart aussehen könnte.

Ein wenig Utopie am Morgen klingt verheißungsvoll. Es ist 10 Uhr, die Vögel zwitschern draußen, Sonnenstrahlen erhellen mein Zimmer. Ein guter Tag, um neue Welten zu denken, sage ich mir und starre auf meinen Bildschirm. Ich betrete den Zoom-Raum der Performance „Neuland“ des Jungen Theater Heidelbergs und werde von fünf fröhlichen Spieler*innen auf fünf unterschiedlichen Kameras willkommen geheißen. Nach und nach füllt sich der Bildschirm mit Kacheln. Junge Schüler*innen ploppen auf und richten sich ein, während die Performer*innen den Einlass moderieren. „Könnt ihr eure Kameras anmachen?“, „Wer hat sich ‚Kartoffelbrille‘ genannt?“ – ein Theaterbesuch im Jahr 2021.

Markus, Kathi, Leon, Nadja und Simon erzählen von ihrer Aufregung, von dieser ersten Premiere seit Langem. Das fünfköpfige Ensemble besteht aus Spieler*innen des Jungen Theaters sowie Theaterpädagog*innen. Mit der Dramaturgin Mathilde Lehmann wollen sie ein interaktives, digitales Theatererlebnis für ein junges Publikum schaffen. Fahrstuhlmusik im Hintergrund bringt Foyerstimmung auf. 30 Personen besetzen schließlich den digitalen Theatersaal, es geht los. Der Bildschirm verfinstert sich, eine Stimme erklingt aus dem Off: „Uns verbindet nichts, außer dass wir im gleichen Glasfasernetz hängen. Aber sonst? Nicht viel.“ Das soll sich ändern. Die Sprecher-Ansicht wechselt, wir sehen nun einen weißen Raum. Unser Labor, unser Experiment. In 90 Minuten sollen wir ihn zu einem Raum für alle machen, zu einer Utopie, ihn mit Klängen, Gefühlen, Bildern und Sätzen besprenkeln, in denen wir uns alle wiederfinden können.

Kurzerhand werden wir in Kleingruppen gesteckt. Mit Leon und Nadja sowie sieben Zuschauenden mache ich mir darüber Gedanken, mit welchen Gefühlen ich den weißen Raum füllen möchte. Das ist ganz schön viel Verantwortung, denke ich mir, aber wer hat schon behauptet, Utopien aufzubauen wäre einfach. Eine halbe Stunde lang tauschen wir uns aus. Mal zaghafte und mal forschere Stimmen fordern neben Sicherheit, Glücklich-Sein und Liebe ebenso überlebenswichtige Gefühle wie Aufregung, Wut, Angst und Hunger.

Der Timer reißt uns auseinander und wir finden uns in der großen Gruppe wieder. Alle Teilbereiche sollen nun mithilfe der Performer*innen aufeinanderprallen, wir Visionär*innen dürfen uns zurücklehnen und genießen. Performer Leon betritt den weißen Raum. Er bekommt Sätze von der Text-Gruppe vorgegeben, Spielerin Kathi tüftelt im Bühnenbild-Labor und überträgt ihr Schaffen auf die Leinwand, Töne werden live gespielt. Zwischen einem aufgeregten „Das ist so real hier, das ist so, als würde ich im Internet leben“ und einem wütenden „Gib mir Essen, sonst werde ich aggressiv und mein Kaninchen auch“ lösen sich auf der Leinwand Brausetabletten sprudelnd in Wasser auf, Glocken läuten und Hunde bellen im Hintergrund.

Nach einigen Minuten lassen wir diese Performance, unsere Performance, Revue passieren. Was aus diesem Mosaik soll unbedingt bleiben, woran kann noch gearbeitet werden? In den Kleingruppen feilen wir an unseren Gefühlen, Texten, Bühnenbildern. Es geht hektisch zu, Entscheidungen müssen schnell getroffen werden. Wieder in den Hauptraum hineingeworfen, erwarten uns zwei neue, kurzweilige Durchläufe. Leon spielt mit den projizierten Bildern, bewegt sich zu synthetischen Klängen, verkörpert die von uns geforderten Gefühle. Abermals kontextlose Sätze und Bilder fügen sich zu einer neu erschaffenen Welt in drei Akten: 1. Das Entdecken, Sich-Wiederfinden in einer virtuellen Sphäre 2. Freundschaft mit einem Kaninchen und tragischer Verlust des Kaninchens 3. Zelebrieren von Freiheit und Selbstliebe – trotz alledem.

Wir applaudieren mit ausgeschalteten Mikros, senden Emojis, lächeln in die Kameras. Ich klappe meinen Laptop zu und hier sitze ich wieder, allein in meinem Zimmer und doch lastet da ein Stück Theater auf meinem Schoss. „Neuland“ zeigt, wie Theater keine Idee zu banal, zu verkehrt oder unwichtig ist, wie Wände zwischen Performer*innen und Zuschauenden durchbrochen werden können. Im Prozess selbst, im gemeinsamen Überlegen und in geteilten Gedanken entwickeln sich die kostbarsten Momente. Es hat schon fast etwas Magisches wie Sätze, die beiläufig fallen oder im Chat verschickt werden nun im weißen Raum erklingen. Die Sehnsucht in einem „Ich will, dass mich jemand umarmt, wenn es draußen regnet“ berührt im Gemenge aus Regengeräuschen und bläulich schimmernden Wasserprojektionen.

Was ich mich jedoch frage, ist, ob „Neuland“ seinem eigenen Anspruch vollends gerecht werden konnte. „Neuland“ möchte alle mit ins Boot holen und macht sich damit wohl eine der größten Herausforderung einer Utopie zur Aufgabe. 30 Fremde in 30 unterschiedlichen Räumen treffen auf Bildschirmen zusammen. Wie auch im Nicht-Neuland sind es oftmals einige wenige Lautere, Schnellere und Ältere, die unter Zeitdruck über Umsetzungen entscheiden. „Neuland“ zeigt, dass Theater ein Raum sein sollte, den unterschiedliche Menschen mitgestalten, zu dem sich unterschiedliche Menschen zugehörig fühlen. Wie gesagt, einfach ist das nicht, aber wie die Stimme aus dem Off zu Beginn verkündet: „Wenn wir das schaffen, erschaffen wir ein Kunststück“. Und da ist doch etwas Utopisches dran.

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