„Das geheime Leben der Alten“ („La vie secrète des vieux“) von Mohamed El Khatib / Zirlib

Thema

Perspektiven gewinnen

Welche Inszenierungen berühren uns, für welches Publikum sind sie gemacht und was bleibt beim Nachhause-Gehen hängen? Autorin Teresa Gehrung-Rodriguez und Redakteurin Martina Jacobi im Austausch über ihre Erlebnisse bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen.

Foto oben: „Das geheime Leben der Alten“ („La vie secrète des vieux“) von Mohamed El Khatib / Zirlib. Foto: Yohanne Lamoulere, Tendance Floue
Beitrag von: am 30.05.2025

Martina Insgesamt war ich dreimal bei den Ruhrfestspielen. Bei „Laios“ bin ich in die griechische Mythologie eingetaucht. Dann war ich bei „Fremd“, einem Stück von Michel Friedmann über das „Ich“ jedes Menschen gegenüber einem „Wir“ in einer Gesellschaft, zu der man nur gehören kann, wenn man selbst so wird wie die anderen. Und bei „Das geheime Leben der Alten“ – dem Stück, das wir zusammen gesehen haben – hat mich der Humor und die Offenheit überrascht, mit der alte Menschen über Liebe und Sexualität sprechen.

„Bülowstraße“ vom GRIPS Theater „Bülowstraße“, GRIPS Theater. Foto: David Baltzer

Teresa Ich war bei insgesamt zwei Inszenierungen. Neben „Das geheime Leben der Alten“ noch alleine bei „Bülowstraße“. Beide Stücke haben mich auf ihre Weise fasziniert. Schon der Altersunterschied der Schauspielenden – über 75 beim ersten Stück und dann das junge Ensemble vom GRIPS Theater – eröffnete ganz unterschiedliche Perspektiven. Und doch ging es bei beiden Stücken um ähnliche Themen: Sehnsüchte und den Versuch, sich in der Welt zurechtzufinden und glücklich zu sein. Bei „Das geheime Leben der Alten“ hat mich besonders die schonungslose Ehrlichkeit und Offenheit der Erzählenden begeistert. „Bülowstraße“ hingegen erzählt von Mila und ihren Freund:innen, die zwischen Alkoholmissbrauch, Krisen und Suizid nach ihrem Platz in der Großstadt suchen. Besonders die Gestaltung mit den Songs von LEAs gleichnamigen Album „Bülowstraße“ fand ich künstlerisch sehr schön umgesetzt. Was mir stark im Kopf bleibt, ist, was für unterschiedliche Menschen Theater erreichen kann.

Martina Bei mir bleibt in „Das geheime Leben der Alten“ dieser sehr ehrliche Humor hängen. Wenn die Alten, alles Laienschauspieler:innen, suchend umherschauen und „George“ rufen und dann holt eine Darstellerin eine Urne auf die Bühne, weil George während des Produktionsprozesses gestorben ist…das war krass, hat in der Umsetzung aber funktioniert, ohne pietätlos zu wirken. Und wie bei dir Sehnsucht, ein Gefühl, dass mich im Theater immer wieder ein- und abholt. In „Fremd“ von den Münchner Kammerspielen habe ich das auch wahrgenommen, da geht es um die jüdische Familiengeschichte des Autors Michel Friedman und angesichts des Holocaust existenzielle Ausgrenzung. Der Text schafft es ganz grundlegend ein Gefühl dafür zu schaffen, wie es ist, einer in der Gesellschaft marginalisierten Gruppe anzugehören und so einen Schmerz, etwas Zerbrochenes in sich, ständig mitzutragen. Die Inszenierung hat aber auch eine starke Kraft des Individuums gezeigt. Das waren super wenige Requisiten, nur eine schwarze Bühnenwand und hinter der Darstellerin eine verschlossene Tür – da dachte ich lange: Eine Exit-Möglichkeit ist immer da im Leben, aber hier zu sein und Dinge zu tun ist die andere Entscheidung, die wir größtenteils alle treffen können.

„Fremd“, Münchner Kammerspiele Katharina Bach in „Fremd“, Münchner Kammerspiele. Foto: Sima Dehgani

Teresa Was bei mir vor allem hängenbleibt ist das Gefühl „es geht im Leben immer irgendwie weiter“. In beiden Stücken ging es um schwere Themen, wie Suizid, Verlust, Scham. Dennoch haben es die Protagonist:innen geschafft, mir ein Gefühl der Hoffnung zu vermitteln. Dass selbst Schicksalsschläge Teil des Lebens sind und man trotzdem weitermachen, sogar neue Kraft daraus schöpfen kann. Auffällig war für mich auch, dass beide Inszenierungen ganz unterschiedliche Lebensphasen beleuchten. In „Bülowstraße“ konnte ich mich als junger Mensch gut mit den Figuren identifizieren. Dieses Gefühl von Orientierungslosigkeit, die Überforderung durch Entscheidungen – aber eben auch die Geborgenheit durch Freundschaften und die Lust am Leben. Es war fast wie eine Reise durch verschiedene Lebensabschnitte: Irgendwas ist immer, aber es geht darum, wie man weitermacht und seinen Weg findet.

Martina Was auch bleibt, ist die Leistung der Darstellenden. „Fremd“ und „Laios“ waren beides Soloabende, wo jeweils eine einzige Darstellerin das ganze Stück gespielt hat. Wie eine Person mit wenigen Requisiten den ganzen Bühnen- und Zuschauer:innenraum für sich einnehmen kann, ist beeindruckend. Am Anfang waren die Darstellerinnen einfach plötzlich da, haben ganz unaufgeregt angefangen und dann hat sich diese Kraft auf der Bühne entfaltet. Bei „Das geheime Leben der Alten“ waren das ja gar keine Schauspieler:innen, aber das hat durch die Direktheit und Ehrlichkeit einfach super funktioniert. Gerade weil sie von eigenen Erlebnissen erzählt haben. Gibt es ein Thema, dass du dir für einen nächsten Theaterbesuch wünschen würdest?

„Laios“, Deutsches Schauspielhaus Hamburg Lina Beckmann in „Fremd“, Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Foto: Monika Ritterhaus

Teresa Diese Unterschiede, wie ein Stück inszeniert werden kann, habe ich auch stark wahrgenommen. In „Bülowstraße“ wurde nicht nur geschauspielert, sondern auch gesungen. Auch das Bühnenbild war spannend:  Durch mehrere Videoprojektionen wurden verschiedene Spielorte visualisiert, zum Beispiel eine Kneipe, ein Zuhause oder die Großstadt. Das machte die Atmosphäre greifbar. Was ich mir bei einem nächsten Theaterbesuch wünsche, kann ich gar nicht so genau sagen. Ich mag es gerne, wenn sich mit intensiven Themen auseinandergesetzt wird, ich neue Perspektiven gewinnen kann. Im Endeffekt lasse ich mich am liebsten überraschen. Wenn ich ohne eine bestimmte Erwartung in ein Theaterstück gehe und anschließend mit mehr rausgehe, als ich gekommen bin, ist es für mich ein gelungener Abend!

 

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Porträtfoto Teresa Rodriguez

Teresa Gehrung Rodriguez. Foto: privat

Die Autorin Teresa Gehrung Rodriguez kommt ursprünglich aus Karlsruhe. Seit 2022 studiert sie Musikjournalismus im Bachelor an der TU Dortmund. Besonders begeistern sie die persönlichen Geschichten von Menschen vor und hinter den Bühnen der Kulturszene.

Porträt Martina Jacobi

Martina Jacobi. Foto: Joshua Hoven

Martina Jacobi wurde in Bern geboren und hat 2022 ihren ersten Text für die junge bühne geschrieben. Seit 2023 ist sie Teil der Redaktion der DEUTSCHEN BÜHNE und leitet seit 2024 die Online-Redaktion der jungen bühne.