ein Ensemble auf einer als Herdplatte ausgestatteten Bühne mit Nebel und rotem Licht bestrahltem Ensemble

Kritik

Verträumte Revolution

Das dokumentarische Theater „Retrotopia“ vom Kosmostheater in Wien in Kooperation mit dem Kollektiv Institut für Medien, Politik und Theater ist gewollt überzogen und satirisch, aber wenig wirkungsvoll. In der dystopisch angelegten Inszenierung finden sich fünf Gesetzesbrecherinnen in einer neuen Gesellschaftsordnung in tradierten Geschlechterrollen wieder.

Foto oben: Bettina Frenzel
Beitrag von: am 18.09.2025

Die verschmelzend dokumentarisch-fiktionale Arbeit in der Regie von Felix Hafner und Jennifer Gisela Weiss soll einen niederschwelligen Zugang zu komplexen Themen bieten. Vorbereitend recherchierte das Kollektiv zu rechten Parteien im Vormarsch, Faschismus und in diesem Zusammenhang zum Frauenbild.

Retrotopia“ ist eine alternative Realität zur Normalität, in der eine neue Ordnung von gestern herrscht. Besonders Cis-Männer genießen oberste Privilegien und Frauen sollen zurück in die traditionellen Rollen, beispielsweise an den Herd. Der 70-minütige Abend spielt dementsprechend auf vier rotglühenden Herdplatten (Bühne: Marie Sturminger), die symbolisch im Hintergrund bleiben. Dokumentarische Themen wie Endometriose, Schwangerschaftsabbrüche, Intergeschlechtlichkeit und Queerness werden in Dialoge verpackt. Die Inszenierung setzt auf absurd überzogene Ironie, die zwar viel Gelächter im Publikum abgreift, aber allzu bekannte Problematiken minimiert.

Linker Feminismus und Tradwifes

Marie Sturminger kleidet die Figuren in klinisches Weiß mit unterschiedlich farbenen Hausfrauenschürzen und fügt als Accessoires einen roten Haarreif hinzu, der bei Bedarf zum scifi-futuristischen Visier umfunktioniert wird. Die Figuren Stress und Wifey werden zum sozialen Zwangsdienst sanktioniert. Stress (Tamara Semzov) entspricht dem Bild einer radikalen linken Feministin, die aktivistisch ist und gegen die Propaganda rebelliert. Wifey (Thea Ehre) ist das Abziehbild des aus Social Media erwachsenen Phänomens eines „Tradwifes“: Sie ästhetisiert auf Social Media, wie sie sich als selbstbestimmte Feministin, als Mutter und Hausfrau um Mann und Kinder kümmert und propagiert dabei traditionelle Werte der 1950er. Ihre pointiert übertriebene Darstellung der Wifey sticht hervor: Beim ersten Auftritt verkörpert sie mit übergroßem Rührbesen-Zauberstab authentisch die selbstüberzeugte Tradwifey.

eine Darstellung mit überdimensionalem Schwingbesen, dahinter weitere vier Ensemblemitglieder Thea Ehre als Tradwifey. Foto: Bettina Frenzel

Die drei anderen Teilnehmerinnen des sozialen Zwangsdienstes versuchen Stress und Wifey zu überzeugen, dass sie jetzt gut mitspielen müssen, um aus der Nummer wieder rauszukommen. Sie lassen sich aber anmerken, dass auch ihnen das alles nicht gefällt. Die große Frage im Raum ist: Wieso sind sie alle hier? An den Grund ihrer Sanktionierung kann sich niemand erinnern.

Überzogene Ästhetik

Satirisch aufgelockert wird der Abend durch Songs von FARCE, die sich durch schräge dennoch politisch-ironische Texte auszeichnen: „I wanna be your trophy wife“. Die Tanzeinlagen sind ein Highlight und passen sich der überzogenen Ästhetik der Inszenierung an. Ein kleiner Moment der Verletzlichkeit entsteht, wenn alle Sanktionierten bei der Operation einer geplatzten Zyste helfen. Hierbei sind die Handgriffe nur als Schatten hinter einem Vorhang erkennbar. Im Fokus sind in der Szene dokumentarische Fakten über Missstände der Forschung in der Gynäkologie, welche jedoch runtergerattert und belehrend wirken.

Ein Amnesienebel sorgt bei den Figuren schließlich für die Erkenntnis, wieso sie sanktioniert wurden. Sofort beginnen sie von einer Revolution zu träumen. Effektiv bleiben die Charaktere aber auf ihren Stereotypen hängen und haben kein Identifikationspotenzial. Sie geben Pulver und Flüssigkeit in einen Schnellmixer, um zu demonstrieren, wer alles bei dem Aufstand dabei sein wird (Frauen, nicht-binäre und A-Gender-Personen, …). Der Traum der Revolution wirkt zu schön, um realistisch zu sein.

 

Mohme_Lucie

Foto: privat

Lucie Mohme studierte Englischen Philologie und Philosophie in Göttingen. Seit 2023 ist sie freie Mitarbeiterin und Autorin bei der DEUTSCHEN BÜHNE und schreibt für das Wiener Kulturmagazin Bohema. Derzeit studiert sie an der Universität Wien Anglophone Literatures and Cultures im Master mit dem Schwerpunkt Gender und irisches Theater.