Kritik

„Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ am Deutschen Theater Berlin

Premiere: 22.05.2021

Foto oben: Arno Declair
Beitrag von: am 23.05.2021

Schweinische Freuden

Eine richtige Premiere, vor Ort und mit echtem Publikum, durfte Junge-Bühne-Redakteurin Sophie am Samstag erleben, und zwar die von „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“. Ein Bericht.

„Wir waren ja nie ganz weg“, sagt Ulrich Khuon, der Intendant des Deutschen Theaters Berlin. Er steht an diesem Premierenabend auf dem Theatervorplatz und erzählt, dass bei ihnen auch ohne Vor-Ort-Publikum laufend geprobt, gestreamt, und an Hygienekonzepten gefeilt wurde. Umso größer die Freude, heute endlich wieder im direkten Austausch mit echtem Publikum zu stehen. Dieses harrt bereits seit dem Einlass eine Stunde vor Beginn des Stücks bei Sturm und Nieselregen auf den schwarzen Klappstühlen aus, die vor dem Theatergebäude mit Abständen aufgestellt wurden. „Ich bin komplett vorbereitet!“, sagt eine Zuschauerin stolz und zieht Wollsocken und Thermoskanne aus ihrer Handtasche.

Während das Publikum sich draußen für einen kalten Abend wappnet, spielt ein Teil des Ensembles drinnen ohne Publikum den Zauberberg für einen Stream des Berliner Theatertreffens. „Das ist schon kurios“, findet Khuon. Dann ermutigt er dazu, gemeinsam durchzuhalten und dem Wetter zu trotzen. Aber als das Ensemble dann so richtig loslegt, braucht das Publikum auch gar keine Aufmunterung mehr. So schrill und laut ist diese Molière-Neufassung von PeterLicht unter der Regie von Jan Bosse, dass sie die Zuschauenden direkt mitzieht. Spätestens nach dem ersten Lied des Abends, das das Ensemble mit Musikerin Carolina Bigge performt, die fliegend von E-Gitarre zu Schlagzeug und wieder zurück wechselt, haben sich alle eingegroovt. Die Familienkomödie erzählt im Original, wie sich Tartuffe als Parasit in die Familie von Orgon einnistet, bis seine Heuchelei letztendlich auffliegt. Die Grundzüge dieser Handlung erhält PeterLicht in seiner Version aufrecht, aktualisiert aber die Sprache, womit er den Stoff absurd verzerrt und ins Lächerliche zieht. Während die Familie sich auf der Bühne also wortreich streitet, ob „der Neue, den Orgi da angeschleppt hat, voll geil oder eher ungeil“ ist, sitzt Tartuffe (Božidar Kocevski) hoch oben in einem Fenster des Theatergebäudes und blickt, die Beine locker aufs Geländer gelegt, schweigend auf das Treiben herab. Orgon taucht später auf einem goldenen Thron auf dem Balkon über der Bühne auf, Tartuffe klettert mit einer Leiter aus dem Fenster, und die Großmutter Pernelle (Regine Zimmermann) brettert mit einem alten Klapprad die Stufen zur Bühne hinunter. So schöpft das Ensemble die Open-Air-Situation voll aus.

Die Familie diskutiert dann in nahezu sinnentleerten, sich bis zur Ermüdung wiederholenden Phrasen, ob sie sich mit ihrer jetzigen, ungeilen aber eigentlich doch ganz okayen, Situation zufriedengeben sollten, oder ob sie doch das Risiko eingehen wollen, sich auf den Neuen einzulassen. Außer ihrer ad absurdum geführten Modernisierung der Sprache und den grellen Kostümen hat diese Neufassung leider nicht viel Neues zu bieten. Das Absurde erreicht schließlich seinen Höhepunkt, als Tartuffe sein wahres Gesicht zeigt, und die Familie in einem seiner „Workshops“ über die „Penishaftigkeit der Welt“ belehrt. Ist Tartuffe wirklich so böse, oder ist er nur ein „stinknormaler Sexschamane“, fragen sich die Familienmitglieder da. Božidar Kocevski spielt mitreißend diese Janusköpfigkeit zwischen schweinischem Bösewicht und genialem Verführer. Dem Versprechen des Stücks, Themen wie Fake News und den „patriarchalen Turbokapitalismus“ anzugehen, wird es an diesem Abend nicht ganz gerecht.

Am Ende der knapp zwei Stunden zittern die Spielenden in ihren dünnen Kostümen und kauern hinter Requisiten, um sich vor dem Wind zu schützen. Für drei Vorhänge bleibt gerade so Zeit, dann springt das Publikum auf und keine zehn Minuten später stapeln die Mitarbeitenden schon die Stühle und räumen den Platz. Die Zuschauenden lassen es sich aber nicht nehmen, sich vor den Toren über ihre Eindrücke auszutauschen. Sehr witzig aber „etwas hohl und dünn“ fand eine Zuschauerin diese Überarbeitung. Für sie war es dennoch eine Freude, den Spielenden dabei zuzusehen, wie gut sie mit der Open-Air-Situation und den Witterungsbedingungen umgegangen sind. Der Abend habe ihr wieder so Lust auf Theater gemacht, dass sie sich auch in Zukunft alles anschauen werde, wo man jetzt wieder hingehen kann. Darauf wird sie wohl nicht zu lange warten müssen, denn das Deutsche Theater spielt schon ab Mittwoch dank des neuen Pilotprojekts wieder drinnen. Auch in vielen anderen Bundesländern sind baldige Öffnungen geplant.

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