Kritik

„Woyzeck“ am Theater Duisburg

Laut und bildstark

Nicht ohne Grund gehört „Woyzeck“ zu den am meisten gespielten Klassikern an deutschen Theatern. In Duisburg hat Regisseurin Damira Schumacher mit dem Ensemble des Jugendclubs „Spieltrieb“ jetzt einen Ansatz gewählt, der das Stück aus einer anderen Perspektive zeigen will. Premiere: 28. Oktober 2023

Foto oben: Sascha Kreklau
Beitrag von: am 30.10.2023

Nein, Georg Büchner macht es uns nicht leicht, seinen Woyzeck zu mögen. Düster und sperrig ist der Text, den der Autor nie vollendet hat. Er starb 1837 und hinterließ ein Fragment, das fast 200 Jahre später als Abiturstoff für viele ein Graus ist. Und doch: Wer sich einlässt auf dieses bittere Stück Weltliteratur, der entdeckt so vieles, was noch immer aktuell ist.

Schon jetzt sei gesagt: Es lohnt sich, die 93 Stufen zum Spielort „Foyer III“ unter dem Dach des Theaters hinaufzugehen. Dieser Ort mit den blanken Rohren an der Wand und dem Charme des Unperfekten ist der ideale Rahmen für die karge Ausstattung, die Rabea Stadthaus entworfen hat. Ein Baukastensystem aus ineinander steckbaren Stangen und Platten wird zum wandelbaren Bühnenbild.

Weibliche Perspektive

Hier sitzt anfangs Marie (Michelle da Silva) und wiegt eine Puppe im Arm, das uneheliche Kind von ihr und Woyzeck. Es ist kein Spoiler, dass die weibliche Hauptfigur die Bühne nicht lebendig verlassen wird. Die Story ist bekannt: Woyzeck, der von seinen Mitmenschen erniedrigt und von Marie betrogen wird, bringt seine Geliebte am Ende um. Spannend ist die Frage, wie es dazu kam. Ist Woyzeck schuldig ohne Wenn und Aber?

Oft wird er als Opfer dargestellt, seine Tat mit den Umständen entschuldigt, in die dieser empfindsame Geist hineingeboren wurde. Aber diesmal muss sich Franz Woyzeck warm anziehen. Regisseurin Damira Schumacher rollt das Drama aus einer weiblichen Perspektive auf. Ihre Interpretation kreist um den Femizid — den Mord an einer Frau als Beziehungstat. Das Besondere ist: Die Geschichte wird nur von Frauen erzählt.

Sofia Dorazio Brockhausen hat die 14 Darstellerinnen mit Kostümen ausgestattet, die dem Stoff eine Brücke in die heutige Zeit bauen. Lulu Feuser steckt als Woyzeck genau wie die anderen Soldaten im blauen Overall. Der Hauptmann (Lucy Mathias) zeigt seine Sonderstellung ganz in Weiß und der Rest der Mannschaft ist so bunt wie das Leben. Als Tambourmajor ist Felia Weigelt von Kopf bis Fuß eine grelle Erscheinung in Pink.

Ausdrucksstarkes Ensemble

Das spektakulärste Kostüm darf der Doktor tragen, der Woyzeck für seine medizinischen Experimente ausnutzt und die berühmte Erbsendiät verordnet. Er hat die Schürze eines Schlachters vor der Brust und trägt Gummihandschuhe bis über die Ellbogen. José Grunow spielt die Figur so herrlich ambivalent, dass man nicht weiß, ob man sich vor diesem Typen fürchten oder über ihn lachen soll. Überhaupt: Das Spieltrieb-Ensemble tritt professionell und ausdrucksstark auf. Allen voran Lulu Feuser, die den Woyzeck mit schmerzhafter Melancholie einhüllt.

Regisseurin Schumacher hat Büchners Text mit Unterstützung von Dramaturg Gabriel Rodriguez Silvero durchgeschüttelt und die Sprache so geglättet, dass sie verständlich wird, ohne ihren historischen Klang zu verlieren. Laut und bildstark kommt ihr Woyzeck daher: Vasco Damjanov (Musik) setzt vor allem auf das Ensemble, das mit Pauken und Posaune aufmarschiert, Geige spielt, singt und mit der Trillerpfeife darauf aufmerksam macht, dass hier etwas faul ist.

Keine eindeutige Antwort

Aber wie man Büchners Geschichte auch dreht und wendet, eine eindeutige Antwort auf die Schuldfrage gibt auch diese junge und frische Herangehensweise nicht. Da helfen selbst die Scheinwerfer nicht, mit denen Schauspiel-Intendant Michael Steindl als Beleuchter das Übel sichtbar macht. Sowohl Woyzeck als auch Marie haben ihren Teil zur fürchterlichen Misere beigetragen. Das eigentliche Opfer ist in der Duisburger Inszenierung das Kind. Am Schluss lässt Damira Schumacher den Jungen das traurige Märchen zitieren, das in Büchners Original die Großmutter erzählt. Emma Steindl (im Pyjama) berührt als kleiner Christian und schickt das Publikum bewegt und nachdenklich nach Hause. So ist Büchners „Woyzeck“ alles andere als lästiger Schulstoff. Es lohnt sich, die Geschichte vorher (noch einmal) zu lesen. Das ist schnell erledigt: Die 27 Szenen passen auf 30 Reclamseiten.

 

Julia Plaschke (geboren 1972) hat Germanistik und französische Literaturwissenschaft in Düsseldorf und Nantes studiert. Als Redakteurin einer Tageszeitung berichtet sie über alle Themen, die eine Stadt bewegen. Weil ihr Schauspiel und Theater besonders am Herzen liegen, schreibt sie darüber zusätzlich als freie Autorin.

Der Radikal Blog von junge bühne und Münchner Volkstheater ist gestartet. Bleibt dran!