Als Intendant und „Spieltrieb“-Gründer Michael Steindl vor der Premiere die Bühne betritt, bricht das Publikum in Jubelrufe aus. Das Haus ist voll. Eine bunte Mischung aus Theaterabonent:innen, Studierenden, Schüler:innen und ehemaligen „Spieltrieblern“. Alle sind zusammengekommen, um das zwanzigjährige Jubiläum des Jugendclubs im Theater Duisburg zu feiern und das aktuelle Ensemble auf der Bühne zu unterstützen.
Bei „Spieltrieb“ setzt sich das Ensemble mit jedem Projekt neu aus jungen Menschen zwischen 17 und 23 Jahren zusammen. Einzige weitere Voraussetzung für die Teilnahme ist das regelmäßige Erscheinen bei den Proben. Die sind für ein Laien-Ensemble ganz schön umfangreich. Zweimal die Woche für jeweils vier Stunden. Ein intensives Wochenende im Monat. In den Ferien probt der Jugendclub sogar acht Stunden täglich. Dass sich diese intensive Arbeit auszahlt, stellt das ambitionierte Ensemble an diesem Abend direkt auf der Bühne unter Beweis.
Witz und Grausamkeit
Bertholt Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ ist bei „Spieltrieb“ mehr als eine Pflichtlektüre aus dem Deutsch-LK. Regisseurin Damira Schumacher, die selbst von 2005 bis 2011 Ensemblemitglied war, ist es gelungen, das Stück aus der Perspektive einer jungen Generation zu inszenieren. Mit exzentrischen Charakteren und vor allem mit viel Humor.
Die Auftritte der Götter – oder der Erleuchteten, wie Wasserverkäufer Wang sie nennt – wirken wie Zwischenmoderationen einer überzogenen TV-Spielshow. Ein Jingle ertönt, ein Glitzervorhang gleitet von der Decke und die drei Götter in schillerndem Silber und Gold torkeln auf die Bühne. Viel weltfremder hätte Brecht es sich wohl kaum wünschen können.
Die Götter (Theresa Schild, Tekin Karacali und Jamie Cremerius) präsentieren Shen Te (Lulu Feuser) als einzig guten Menschen aus Sezuan. Foto: Sascha Kreklau
Während sie aus scheinbar belanglosem Zeitvertreib auf der Erde nach einem guten Menschen suchen, kämpft die mittellose Shen Te in Sezuan ums Überleben. Aus Geldmangel verkauft sie ihren Körper, hilft wo sie kann und wird von ihrem Umfeld trotzdem immer weiter ausgebeutet. Davon sind auch die Götter nicht ausgenommen, die bei Shen Te übernachten, um sich von ihrem guten Wesen zu überzeugen.
Im Gegenzug erhält Shen Te (nach reichlicher interner Diskussion!) eine Summe an Geld, die sie zum Kauf eines kleinen Tabakladens verwendet. Wie ihre Mitmenschen danach mit Shen Te umgehen, ist den Göttern egal. Mit dem Geld haben sie auch ihre Verantwortung abgegeben. Erst als Shen Te in Gestalt ihres Cousins Shui Ta für sich selbst einsteht und sich auf Kosten anderer durch das kapitalistische und patriarchale System hochkämpft, erscheinen die betrunkenen Götter, um über ihre Missetaten zu richten.
Authentizität und Übertreibung
Lulu Feusers innere Zerrissenheit zwischen ihren eigenen Ansprüchen und ihrem Umfeld sind in dieser Rolle von Anfang an zu spüren. Sie schafft es, in ihrer Gutmütigkeit nicht „Gutmensch“, in ihrer Naivität nicht nervig zu werden. Diese Vielschichtigkeit geht ihr in der zweiten Rolle als Shen Tes korrupter Cousin Shui Ta zwischenzeitlich etwas verloren. Ihr Gegenüber, der stellungslose Flieger Yang Sun (Simon Heuwing) überzeugt mit einer Pipeline von Lebensmüdigkeit zu ausuferndem Opportunismus.
Als er auf Shen Te trifft, möchte er sich aus Trostlosigkeit das Leben nehmen, findet aber in ihrer Gutmütigkeit seinen Lebenswillen und seine Gier. Was als verletzliche Begegnung beginnt, kippt schnell ins Toxische. Dabei schießt Simon Heuwing stellenweise über das Ziel hinaus, übersteuert. Als Arbeiter in Shui Tas Tabakfabrik dosiert er seine Aggressionen etwas zu großzügig, sodass man seine gebrüllten Worte kaum verstehen kann, sie ihre Wirkung verlieren. Später, in der Hochzeitsszene, gelingt das differenzierter.
Spiel und Spaß
Das Drama um Shen Te, ihr Alter-Ego Shui Ta und Yang Sun wird regelmäßig durch zahlreiche Nebenfiguren aufgebrochen. Da gibt es Lina Marie Marschallek, die beim Spielen beeindruckende physische Comedy mitbringt und „Die Frau“ (eine, derjenigen, die Shen Te ausnutzt) mit ihrem ganzen Körper sprechen lässt. Oder Jannis Clemens, der als Schreiner Lin To, vor allem aber als selbstverliebter Anzugträger Shu Fu das Publikum zum Lachen bringt. Auch die regelmäßigen Besuche der eigentlich ziemlich grausamen und kleinkarierten Vermieterin Mi Tzü (Michelle da Silva) werden bei „Spieltrieb“ zur Karikatur. Wirklich düstere oder zynische Momente gibt es nicht.
Im „Spieltrieb“-Sezuan scheinen alle Opfer ihrer Umstände zu sein. Sozialen Aufstieg gibt es nur für diejenigen, die moralisch absteigen und ihre Prinzipien dem Kapitalismus verkaufen. Schon die Suche der Götter nach einem Ideal, das sie selbst nicht erfüllen können, scheint hier weltfremd. Mit den Konsequenzen ihrer Taten steht Shen Te am Ende inmitten einer wütenden Meute allein da. Ob sie ein guter Mensch ist, bleibt dem Publikum überlassen, das den jungen Darsteller:innen auf der Bühne laut tosend zujubelt.