Kritik

„Halt mich auf“, Theater unterm Dach

In ihrem Debütstück „Halt mich auf!“ verdichtet die junge Autorin und Dramaturgin Annika Henrich melancholisch-humorvoll die brennenden Themen urbaner Lebenswelten.

Premiere: 29.04.2022

Foto oben: Isa Zappe
Beitrag von: am 01.05.2022

Showdown auf dem Klo

Wo trifft man sich? Na klar, auf dem Klo. Auf dem Klo sind alle plötzlich ein bisschen gleicher. Dabei könnten sie im Grunde nicht verschiedener sein: Eine junge Frau (Christina Hilkens) will eigentlich Schauspielerin sein, schleppt sich mit ihrem selbstgeschriebenen Monolog aber bloß von Job zu Job. Eine Biotechnologin (Luise Schnittert) verbringt die Zeit am Arbeitsplatz damit, möglichst beschäftigt auszusehen. Und ein Bauunternehmer (Urs Fabian Winiger) versteht die Welt nicht mehr, als eine Menschenmenge gegen seine geplante Sanierung aufbegehrt. Auch sein Sohn (Quintus Hummel) ist unter den Demonstrant*innen und sorgt für die Protestmusik.

Halt mich auf ist ein Stück über den Existenzkampf in der urban-kapitalistischen Betonwüste, über Entfremdung und die Sehnsucht nach Liebe, über die Frage, wann man wer ist und ob das überhaupt erstrebenswert erscheint. Das Stück von Annika Henrich feierte am 29. April 2022 unter Regie von Johanna Hasse in einer Koproduktion zwischen dem Theater unterm Dach Berlin und dem monsun.theater Hamburg in Berlin Premiere.

Im Grunde treibt alle vier Figuren dieselbe Frage um: Wie bestehe ich nicht nur die Herausforderung in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft, sondern finde in diesem ständigen Überlebenskampf auch noch mein Leben: das, was mich ausmacht, das, was mich zu jemandem macht? Christina Hilkens in der Rolle der jungen Frau hält entgegen aller Widrigkeiten an ihrem Traum fest: Sie will Schauspielerin werden. Dass sie auch knapp 700 Vorsprechen nicht durch eine Rolle, ein Engagement von Hartz IV befreien können, hält sie für einen vorübergehenden Zustand. Weil sie sich keine Wohnung leisten kann, hat sie eine ehemalige Frittenbude besiedelt. Mit unerschütterlichem Optimismus labelt sie diese als Tiny House. Zwischen Euphorie, Verzweiflung und Wahnsinn schwankt Christina Hilkens‘ Darstellung einer Heldin, die den Demütigungen des Jobcenters und den Bedrohungen ihrer Existenz tapfer die Stirn bietet. Sie gipfelt in einer bejubelten Brotsorten-Litanei in der die junge Schauspielerin ihre vom Jobcenter vermittelte Erwerbstätigkeit als Bäckereifachverkäuferin verarbeitet.

Leiser, zaghafter und melancholischer zeigt Luise Schnittert ihre Biotechnologin. Fast ein bisschen stolz berichtet sie, wie sie sich in ihrer Existenz als gut bezahlte und grandios gelangweilte Akademikerin eingerichtet hat: „Mit einem Doktor in Naturwissenschaften fragt dich keiner mehr, was du jeden Tag zwischen 9 und 17 Uhr machst.“ Und so sitzt sie die Zeit einfach ab – ohne jemals einen einzigen Handschlag in ihrem Job zu tun, dessen Inhalt ihr von Anfang an unklar war: „Aber irgendwann ist es zu spät, um nochmal zu fragen.“ Ihre Selbstaufgabe entbehrt der Komik nicht. Sie mimt die Hauptfigur in ihrem eigenen, vollkommen sinnentleerten Leben nur. Ein bisschen Melancholie kommt auf, als sie an ein Augenpaar denkt, von dem sie sich einst verzaubert gefühlt hat. Aber die Erinnerung an Gefühle wischt sie weg. Als ihre krebskranke Mutter bei ihr einzieht und ihr Chef ihr dafür aus Mitgefühl Urlaub gibt, flieht sie vor der Frau, zu der sie mit dem Durchtrennen der Nabelschnur jegliche Verbindung verloren hat, auf eine öffentliche Toilette. Bald hat sie sich dort ganz gut eingerichtet und beschert sie dem Publikum eine wunderbar bluesige Hymne auf den stillen Ort. Fest umklammert Luise Schnittert eine Plastikorchidee, die einzig wahre Liebe ihrer Biotechnologin, und gibt eine vielversprechende Kostprobe ihrer Gesangskünste.

Sehr musikalisch zeigt sich auch Quintus Hummel in der Rolle des anarchistischen Enfant terrible. Die meiste Zeit über fungiert er im Hintergrund oder neben der Handlung als eine Art Sound Machine mit verschiedensten Instrumenten und Gesang, bevor er sich irgendwann als der Sohn des Bauherrn zu erkennen gibt. Er ist „zu gutaussehend, um schon zu sterben“ und entwirft deswegen mit seinen Freund*innen eine radikale Zukunftsvision. Gemeisam besetzen sie das Haus, das sein eigener Vater als Bauherr betreut. Die „Bruchbude“ soll abgerissen und durch einen „multifunktionalen Gebäudekomplex“ ersetzt werden. Die jungen Wilden nehmen dem Bauherrn nicht ab, dass dies ein „Sozialprojekt“ sein soll und demonstrieren gegen das Vorhaben. Sie werfen Pflastersteine (die Zuschauer*innen dürfen mit unter ihren Sitzen platzierten Pappsteinen mitmachen) und skandieren Parolen. Doch der Protest reicht ihnen bald nicht mehr, Mutter Erde scheint sowieso verloren. Also konzentrieren sie sich auf den Mars … Quintus Hummel schenkt seiner Figur mit seinem leicht spöttischen Lächeln eine Überlegenheit über das Dasein im Hamsterrad, insbesondere seines Vaters. Seine musikalische Begleitung des Bühnengeschehens hingegen verrät in ihren leisen Tönen auch eine große Empathie für die Sinnsuche und den verzweifelten Überlebenskampf der urbanen Existenzen.

Der Bauherr schließlich ist als Gegenfigur zu den übrigen entworfen. Er scheint ein Erfolgsmensch zu sein, ein Selfmade-Millionär. Immer unter Strom, immer auf Zack – Urs Fabian Winiger prügelt sich hier auch physisch zu sportlichen Leistungen – braucht er nur vier Stunden Schlaf pro Nacht, denn er habe zu tun. So, wie die beiden Frauen sich einreden, dass ihre eigentlich unaushaltbare Lebenslage nur temporär bzw. ganz angenehm ist, wenn man nicht so genau hinsieht, so redet der Bauunternehmer sich ein, mit seiner Arbeit einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Dem Vorwurf der Gentrifizierung entgegnet er: „Wenn ich es nicht tue, tun es andere.“ Die Proteste gegen sein Bauvorhaben aber beunruhigen ihn zusehends: Seine Fassade aus Selbstgewissheit und Selbstgerechtigkeit bröckelt. Urs Fabian Winiger lässt Zweifel und Erschöpfung dahinter aufscheinen und schnurrt den Master of Desaster zu einem Würstchen zusammen. Auf dem Klo sucht er nach Schutz – und trifft dort auf die anderen Figuren. Es kommt zum Showdown.

Die Kloschüssel auf der Bühne (Françoise Hüsges) steht als originelles Symbol für das existentiell Menschliche im Zentrum des Geschehens. Drum herum entwickelt sich ein dynamischer, unterhaltsamer und tragikomischer Theaterabend, der aktueller nicht sein könnte. – Die Realität dringt in den fiktionalen Raum, als Darstellerin Christina Hilkens ein Schreiben herumreicht, in dem ihr Vermieter ihr kündigt. Den eigentlich vernichtend pessimistische Blick auf den Überlebenskampf der Figuren brechen Text und Darsteller*innen mit einer großen Portion Humor und dem etwas zynischen Glauben an eine Zukunft auf dem Mars. Gelungen!

 

 

Der Radikal Blog von junge bühne und Münchner Volkstheater ist gestartet. Bleibt dran!