Kritik

„Hinterwelten“, UNIDRAM Potsdam

Mit dem Stück „Hinterwelten“ eröffnete das internationale Theaterfestival für zeitgenössisches Theater UNIDRAM am 11. Oktober 2022 in der Fabrik Potsdam. Seit Jahren zählen Nicole Mossoux und Patrick Bonté zu den festen Größen des europäischen Bildertheaters. Ihre Inszenierungen verbinden Bewegung, Tanz und Musik zu einer eigenen visuellen Sprache. „Hinterwelten” verbildlicht die Erfahrung eines Wesens getrieben von Passion und Zwiespalt.

Foto oben: Julien Lambert
Beitrag von: am 13.10.2022

Zwickendes Gefühl des Horrors

Potsdam. Vor einem Jahr war ich zum letzten Mal hier, genau in dieser Fabrik. Nostalgische Momente begleiten mich, während ich von der Tramstation Schiffbauergasse die Treppen hinunterlaufe, unter die Brücke gehe und das Wasser flüchtig anblicke. Ich stehe vor der Fabrik. Menschen, Alter auf 45 geschätzt. Die meisten blond oder grauhaarig. Ich falle auf, ich bin jung. Ich sitze in der 2. Reihe, mittig. Das Licht geht aus. Sekunden die sich in Stille verwandeln.

Mit einer sinnlichen Tiefe der Grausamkeit katapultiert die eröffnende Szene mich in ein zwickendes Gefühl des Horrors. Von den Wänden hängen über der Bühne fünf schwarze durchsichtige Vorhänge, die den puppenähnlichen Gestalten ihren Gang markieren. Es knistert, extrem unbequem. Genauso schaurig hätte der Wind pfeifen können, während sich uns die im Barockstil bekleideten Silhouetten annähern. In einem Rhythmus der Wiedererwachten laufen sie mit präziser Körperhaltung auf uns zu. Köpfe wackeln, Hände zittern, steife Körper, so schlicht und schleppend.

Mit jedem Schritt nähern sie sich dem Ende der Vorhänge, die sie bisher trennten und gelangen zum Anfang der Bühne. Körpergelenke führen hängende leblose Gliedmaßen sensibel durch den Raum. Ein kollektives Quälen, welches sich wie ein roter Faden durch das komplette Stück zieht. Geschmeidig überlappen sich die Szenen. Sie tanzen im Chaos des hedonistischen Leidens, führen uns zu linearen Aufstellungen und parallelen Bewegungen, die wie Kettenreaktionen ineinander fallen.

Ich leide= du leidest= wir leiden. Wir tragen historische Wunden in den Falten unserer Haut. Vielleicht liegt die Kunst darin, die Lust an diesem Leid spürbar zu machen. Das Qualvolle als Teil unserer Existenz anzunehmen und aktiv zu durchleben. Auch werden die Charaktere immer wieder durch eine treibende Sogkraft in den Gängen nach hinten gezogen in den Wirbel der Illusion und verschwinden in der Dunkelheit, im Nichts. Doch sie kehren immer wieder zurück, verändert. Diesmal kostümiert in zeitlosen Karnevalsgewändern transformieren sie sich in maschinenartige Kreaturen, die synchron mit den Fersen im Kreis auf und ab hüpfen. Diese kleine Bewegung steigert sich in kontrollierte Wut, die immer asynchroner wird.

Eine Erinnerung an die Menschheit lässt sie einander wahrnehmen. Bisher waren sie so gefangen in dem Spiel des Absurden, dass sie sich nicht einmal begegnen konnten. Jetzt findet sich die Gemeinschaft wieder. Eine befremdende Liebe zwischen Ihnen und ein starrer Blick aufs Publikum erinnern an die Zeitlosigkeit des Seins. Übergangslos zieht die Sogkraft sie wieder ins Nichts, alle verschwinden rückwärts rennend durch die Gänge in die Dunkelheit.

Ein Gesicht bleibt zurück, Spotlight von Haar bis Kinn, ein episches Bild. Dynamisch wechselt er zu schnellen, lautlosen Gesprächen, die man so nur mit seinem Vater führt. Diese Szene lässt mich verschwinden. Weg von diesem Saal in die ewige Fantasie des transzendenten Ausdrucks. Kirchliche Bekleidung lenkt den Vorgang in eine göttliche Richtung. In einer der letzten Szenen bewegt sich ein alleinstehender Charakter verrenkt auf einem Podest, es erscheint unmittelbar eine weitere Person. Sie fangen an, sich wie Liebende zu verschlingen. Arme und Beine tanzen durch die Luft in einem unaufhaltbaren Fluss der Leidenschaft. Sie wirkt jedoch ungenießbar, diese Leidenschaft, ausgenutzt. Trotz allem ist es ein wunderschöner Anblick, wie diese nackten Körper hektische Bilder in die Luft zeichnen.

Schlagartig werde ich aus meiner Ekstase herausgerissen. Applaus, selbst der wirkt abstrus. Ich blicke in die Gesichter der Darsteller*Innen sehe die Hin-und Hergerissenheit zwischen dem eingenommenen Wesen und dem leichten Zurückkehren in diese rationale Welt, während der Applaus fällt. Perplexe Augen, Augen der Verarbeitung.

„Hinterwelten“ hat keine denkbare Intention uns was zu erzählen, um zu einem prosaischen Schluss zu kommen oder überhaupt irgendeiner konkreten Erkenntnis. Wir durchleben eine uns noch unbekannte Welt, die in der Vielseitigkeit des Befindens schlummert. Was machen wir mit dieser Erfahrung? Vielleicht schöpft jeder nur das, was er denkt zu benötigen. Vielleicht war es eine weitere passive Einnahme von Kunst oder die Möglichkeit, die Dimensionen der Berauschung erweitern zu lassen.

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