Das Festival „Schöne Aussicht“ am JES 2024

Thema

Vertrauen in Vielfalt

Das Junge Ensemble Stuttgart, ein Theater für junges Publikum, versteht sich als diskriminierungssensibles Theater und strebt einen sicheren Raum für marginalisierte Personen an. Drei Mitarbeiter:innen befragen ihre Arbeit als queere Theaterschaffende. Dieser Artikel ist in der 2. Ausgabe des Jahreshefts DIE QUEERE BÜHNE erschienen.

Foto oben: Julia Sang Nguyen
Beitrag von: am 19.05.2025

Lee Mülders, Regieassistenz/Regie am Beispiel „Blutbuch“:

Kim de l’Horizons „Blutbuch“ ist ein Roman, in dem die Erzählfigur aus einer queeren, genderfluiden Perspektive schreibt. Das Buch setzt sich mit Themen wie Familie, Identität, Verbundenheit und Erbe auseinander. Das sind ebenso queere Themen wie Themen, die jeden Menschen, unabhängig von Gender oder Sexualität, betreffen. Deshalb finde ich den Stoff fantastisch für ein junges Publikum. Ich bin sicher, dass für jeden jungen Menschen mindestens eines dieser Themen relevant ist. 

Für unsere Inszenierung haben der Bühnenbildner Philipp Nicolai und ich gemeinsam ein Raumkonzept entwickelt, in dem die Grenzen zwischen Zuschauer:innen- und Spieler:innenbereich verschwimmen. Das reflektiert für mich nicht nur den Inhalt – das Aufbrechen von Grenzen und Konventionen und das Suchen nach fließenden Übergängen und Gemeinschaft –, sondern schafft Zugänglichkeit für ein heterogenes junges Publikum. Die tatsächliche Nähe zu den Spieler:innen kann ein Gefühl von Mitgemeintsein aufbauen. 

So arbeiten wir mit einer offenen, nahbaren Spielhaltung und suchen für die poetischen und absurden Teile des Textes nach sinnlichen Bildern und einem Bogen zwischen Eindeutigkeit und Abstraktion. Gerade in diesem offenen Raum sprechen wir in der Produktion viel über Sicherheit für die Spieler:innen auf der Bühne. Gleichzeitig wollen wir unserem Publikum einen Vertrauensvorschuss entgegenbringen und ihnen zutrauen, sich auf den Stoff einzulassen. 

Mir ist sehr wichtig, die Perspektiven des gesamten Produktionsteams mit einzubeziehen, zum Beispiel dadurch, dass wir den Texten aus „Blutbuch“ selbstgeschriebene hinzufügen. Genau wie unser Publikum identifizieren sich manche von uns als queer und manche nicht. Wir bringen alle eigene Erfahrungen und Gedanken zu den verschiedenen Themen mit. Die Auseinandersetzung mit Geschlechternormen soll im Stück nicht nur bei den queeren Spieler:innen liegen, sondern auch bei den cis Spieler:innen. 

Wir möchten mit der Inszenierung einen Raum schaffen, in dem das Abarbeiten an und Offenlegen von queeren, gesellschaftsrelevanten Themen auf eine Art passiert, die offen und liebevoll ist. Und auch dazu bereit, mal zu scheitern. So, dass ein Gefühl von Verbundenheit entstehen kann. Von der Theaterleitung brauche ich ein Zutrauen, dass ich als queerer Mensch queere Inhalte bearbeiten und zugänglich machen kann.

Das JES empfinde ich als einen Ort, der wertschätzend und bewusst gegenüber queerer Lebensrealität ist. Dafür ist die Theaterleitung maßgeblich mitverantwortlich. Und das Wissen darum gibt mir im Arbeiten die Sicherheit, zu queeren Inhalten in der Inszenierung zu stehen. 

Lee Mülders wurde in Wuppertal geboren. Erste Theatererfahrungen sammelte they in diversen Spielclubs am JES und ist seit 2022 als Regieassistenz dort tätig. In der Spielzeit 2024/25 inszeniert Lee Mülders zum ersten Mal selbst mit der Produktion „Blutbuch“.

Lee Mülders Lee Mülders © Julia Sang Nguyen

Lola Merz Robinson, Schauspieler:in:

In den vergangenen Jahren wurde ich als nichtbinäre Schauspieler:in am JES für Figuren aller Geschlechter besetzt. Wenn ich als weiblich gelesene Person auf der Bühne stehe und mit „er/ihm“ oder „dey/deren“ Pronomen angesprochen werde, ist Gender immer ein Thema. Dennoch liegt unser Fokus meist auf der Inszenierung selbst, wobei Geschlecht und Sexualität der Charaktere als bereichernde Elemente dienen, um die Diversität unserer Gesellschaft widerzuspiegeln.

Mein Spielstil bleibt unabhängig vom Geschlecht der Figur. Ich bin mir bewusst, dass das Aussehen und Verhaltensmuster eines Menschen nicht zwingend Rückschlüsse auf deren Gender zulassen. Die unglaubliche Vielfalt von Geschlechtsidentität und Queerness lässt für mich nicht zu, meine Charaktere als Stereotype zu spielen. Vielmehr beschäftige ich mich mit den Hintergründen der Figuren, um authentisch darzustellen, wie sie sprechen, sich bewegen und wie sie ihre Geschichten zu denen machen, die sie sind. 

Meine Erfahrung zeigt, dass das Geschlecht oder die Sexualität der von mir verkörperten Figuren für das junge Publikum oft eine untergeordnete Rolle spielt. In Gesprächen mit Probenklassen während der Produktionszeit bin ich immer wieder positiv von der Offenheit der Kinder und Jugendlichen überrascht. Sie verstehen die dargestellten Figuren schnell und akzeptieren sie, ohne große Diskussion über Pronomen. Gender wird meist nur dann zum Thema, wenn ein Kind konkret danach fragt. Ansonsten stehen die Charaktere an sich und die Handlung im Vordergrund. 

Ich halte es für wichtig, vor allem für ein junges Publikum, unterschiedliche Geschlechteridentitäten auf der Bühne zu zeigen. Viele unserer jugendlichen Besucher:innen befinden sich in einer Phase der Selbstfindung, in der Themen wie Sexualität und Identität wichtig werden. Es ist unser Anliegen, den jungen Zuschauenden verschiedene Identifikationsfiguren auf ungezwungene Weise näherzubringen, um ihnen Vielfalt zu präsentieren, Akzeptanz zu fördern und zu zeigen, wie ein diskriminierungsfreier Umgang mit Diversität möglich ist. 

Um meine Arbeit im JES bestmöglich zu gestalten, ist ein grundlegendes Verständnis für Queerness seitens meiner Kolleg:innen essenziell. Die Sensibilisierung im Umgang mit Pronomen aller Mitarbeiter:innen ist von großer Bedeutung. Als Theaterleitung sorgt Grete Pagan dafür, dass dies und noch mehr gegeben ist. Im JES bilden wir uns gemeinsam über die Lebensrealitäten marginalisierter Gruppen weiter und laden Expert:innen ein. Wir schaffen so einen Safer Space für alle Abteilungen unseres Hauses und teilen diesen mit unseren Besucher:innen. Offenheit und Inklusion sind ein kontinuierlicher Lernprozess, und das JES setzt sich aktiv dafür ein, mit gutem Beispiel voranzugehen.

Lola Merz Robinson wurde in München geboren. They absolvierte einen Abschluss an der Fachoberschule für Gestaltung und die Ausbildung zur Schauspieler:in. Seit September 2022 ist Lola Merz Robinson festes Ensemblemitglied am JES.

Lola Merz Robinson Lola Merz Robinson © Julia Sang Nguyen

Katharina Felde, Theaterpädagogin und -vermittlerin:

Das Theater eignet sich als Raum zum Erproben und Hinterfragen von Realitäten. Das ist ein idealer Ausgangspunkt in theaterpädagogischen Projekten und Workshops mit beispielsweise Schulklassen, um für queere Lebensrealitäten zu sensibilisieren. Durch szenisches Spielen können komplexe politische Themen verhandelt und das Bewusstsein für eigene Privilegien geschärft werden. Unter anderem spielen dabei performative Mittel eine wichtige Rolle, die die soziale Konstruiertheit von Realitäten greifbar machen. Jungen Personen kann gezeigt werden, dass ihr Handeln wichtig ist und sie Gesellschaft aktiv mitgestalten. 

Ich sehe meine theaterpädagogische Arbeit am JES als Teil von politischer Bildungsarbeit. Um theaterpädagogische Mittel effektiv als Werkzeug der politischen Bildung zu nutzen, ist es wichtig, interaktive und partizipative Formate anzubieten. Workshops oder längerfristig angesetzte Projekte können zu einem Gemeinschaftsgefühl und Vertrauen beitragen. Durch die gemeinsame künstlerische Auseinandersetzung mit Themen, die die Teilnehmenden selbst einbringen, soll das Selbst- und Gruppenbewusstsein gestärkt und ein gemeinsames Empowerment herbeigeführt werden.

Als weiße, queere Cis-Frau ist es mir ein Anliegen, meine Privilegien zu nutzen, um Repräsentationsräume für queere, junge Personen am Theater zu schaffen. Dafür braucht es einen sicheren Rahmen von mir als Theatervermittlerin und von allen Mitarbeiter:innen des Hauses. Wie dieser geschützte Rahmen aussieht, muss von und mit den Teilnehmenden definiert, plural diskutiert und künstlerisch erarbeitet werden. Ein gemeinsam erarbeiteter Verhaltenskodex kann zu Beginn eines gemeinsamen Arbeitsprozesses das Gefühl von Sicherheit schaffen.

Als Leitungsperson von theaterpädagogischen Projekten sehe ich mich in der Verantwortung, mich immer wieder in meiner Position zur jeweiligen Gruppe zu reflektieren. Sinnvoll ist eine Zusammenarbeit mit LGBTQIA+- Organisationen zur Vernetzung und zum Teilen von Ressourcen.

Von der Theaterleitung ist Unterstützung und Solidarität in unterschiedlichen Bereichen nötig.  Ein wichtiger Aspekt in der Ermöglichung von Safer Spaces am Theater ist unter anderem die Sensibilisierung der Theatermitarbeiter:innen, zum Beispiel durch Schulungen. Die Auswahl von Stücken, die queere Themen behandeln oder von queeren Autor:innen stammen, unterstützen die Repräsentation von queeren Stimmen. Das ist ein starkes und solidarisches Zeichen zur Anerkennung queerer Lebensrealitäten, auch über das Theater für junges Publikum hinaus.

Katharina Felde wurde in Gießen geboren, studierte Theater- und Kulturwissenschaften in Leipzig und Kulturvermittlung in Hildesheim. Als weiße, queere Cis-Frau liegt ihr Arbeitsschwerpunkt auf der Verbindung zwischen kultureller und politischer Bildung und performativ-experimenteller Theaterarbeit. Seit 2024/25 ist sie fest am JES.

Katharina Felde Katharina Felde © Julia Sang Nguyen