Kritik

„Nathan“ am Junges DT Berlin

Gemeinsam mit zwölf Jugendlichen hat Regisseurin Joanna Praml den Klassiker neu bearbeitet. In der Inszenierung suchen sie nach den Verbindungen von Jerusalem im Jahr 1192, der Zeit der Aufklärung und der heutigen Lebensrealität im Melting Pot Berlin.

 

Auch in der jungen bühne haben wir „Nathan“ neu aufbereitet. Zu sehen gibt es das Drama als Comic in Ausgabe 15, die ihr hier ansehen oder bestellen könnt.

Foto oben: Arno Declair
Beitrag von: am 08.02.2023

Vielen mag Lessings berühmtes Dramatisches Gedicht Nathan der Weise als sperrige Schullektüre bekannt sein, mit mehr oder weniger wacher Erinnerung an die legendäre Ringparabel im dritten Akt. Und man darf dem Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlichten und uraufgeführten Theaterstück auch durchaus Befremden entgegenbringen: In aufklärerischer Tradition bemüht sich der umsichtige Protagonist Nathan um Toleranz, um Verständigung zwischen den Weltreligionen (wobei sich das Stück auf Christentum, Islam und Judentum beschränkt). Die hier vermittelte Utopie eines großen familiären, interreligiösen und -kulturellen Zusammenhalts kann aus heutiger Sicht aber auch realitätsfern oder belehrend wirken. Und das altertümliche Deutsch der Figuren mag vor allem angesichts seines Schauplatzes – Jerusalem 1192 – irritieren.

Da liegt es auf der Hand, dass sich die 12 Berliner Jugendlichen vom Jungen DT dem Nathan-Stoff, dem „Antifeministischen, Antisemitischen, Antimuslimischen, anti, anti, anti…“ in ihm erstmal verwehren – mit dem wohlplatzierten Hinweis, dass Lessings Perspektive weit vor den Schrecken der Shoah selbstverständlich eine andere gewesen sein muss. Regisseurin Joanna Praml und Dramaturgin Dorle Trachternach, die mit Schillers Die Räuber am Jungen DT bereits ähnlich verfuhren, haben zusammen mit den jungen Darsteller:innen eine Textfassung erarbeitet, die den Originaltext zwar hinterfragt, auf den Kopf stellt, überschreibt, ihn aber gleichzeitig sehr ernst nimmt und seine Kernaussagen zu ergründen versucht. Dabei vermischt sich die Lessing’sche Sprache gekonnt mit der jugendlichen Alltags- und Umgangssprache.

Anfangs begrenzt weißes Tuch die Bühne der Kammerspiele zu einem niedrigen Raum. Flächen zur linken und rechten Seite lassen sich mit Kreide beschriften wie Schultafeln, das Notierte per Live-Cam vervielfältigen. Das 12-köpfige Ensemble steht zunächst frontal an der Rampe, in Alltagskleidung, geht auf ermüdende Pseudo-Tuchfühlung mit dem Publikum, stellt sich als Toni, Keemo, Danny, Johnny, Sara, Maria, Isabella, Davíd, Mathieu, Theo, Katie und Linnea vor. Nähe und Transparenz schaffen, sich in den eigenen Ausgangsbedingungen situieren und sichtbar machen – wobei man im Theater ja immer von Fiktionalisierung ausgehen darf –, das geschieht jedoch nicht nur in guter theaterpädagogischer Manier, sondern entpuppt sich als Erfolgsrezept für einen zuletzt spannungsgeladenen Abend. Nebenbei greift das anfängliche Warm-Up kritische Gedanken zu Konsum, Religion und dem oft zum Schlagwort herabgewerteten Diversity-Begriff auf.

Wiederkehrend bringen heftige Debatten, Streitereien, Uneinigkeiten die Szene zum Implodieren – so wie es eben ist in einer „One big family“, als die sich das Ensemble in seiner Nathan-Anlehnung zu verstehen sucht. In dieser Dramaturgie schraubt sich der Abend fort, und es wird sodann richtig intensiv, als sich die Spieler:innen zunehmend in die dramatische Handlung verwickeln lassen, die sie sich und dem Publikum eigentlich „ersparen“ wollten. In losem Durchgang durch die fünf Akte ist plötzlich alles drängend da: das brennende Haus, aus dem der christliche Tempelherr Nathans Ziehtochter Recha rettet; deren aufkeimende und nicht aus religiösen, sondern ganz anderen Gründen verbotene Liebe; der dem Heimweh geschuldete Verrat Dajas, Rechas Erzieherin; die finanzielle Not des Sultans, der Nathan neben Geldleihen auch die Ringparabel abtrotzt, als diplomatische Antwort zur Gleichberechtigung aller Religionen. Damit brechen all die großen Fragen nach dem Umgang mit der Verschiedenheit der Menschen und ihrer Weltanschauungen brachial auf und die Performer:innen zeigen mit gewaltigem, ja geradewegs verzweifeltem Spieleinsatz, wie außerordentlich schwer es ist, die Toleranz im Angesicht so vieler Unsagbarkeiten in der Welt zu feiern.

Mehrsprachig und musikalisch beweisen die Jugendlichen ihr wertvoll vielfältiges Sein und Können und begünstigen so zärtliche, intime Momente, zum Beispiel vor der Kamera. Dass sie sich mit unterschiedlichen Stückfiguren identifizieren, erinnert an Mirjam Presslers vielstimmigen Jugendroman Nathan und seine Kinder, in dem die Ichs verschiedener Figuren abwechselnd erzählen. Auch verbunden als Chor ringen sie dem Klassiker seine Wahrheiten ab, die sie niemals einfach als solche hinnehmen. Lessings Sprache und ihre eigene, sein Anliegen und ihres scheinen sich so zu verweben, gegenseitig ineinander einzuschreiben und bringen einen eigenen Humor und Reichtum hervor, dem sich nicht zuletzt der beengte Bühnenraum in Höhe und Tiefe öffnet. Holy shit, ist das also eine „Menschheitsfamilie“, eine wirkliche „One big family“ über den Schlussapplaus hinaus? Das muss offen bleiben und bleibt es auch!

Mit: Susann Ali-Saleha, Stella Gröszer, Diane Kimbonen, Dennis Kramp, Kareem Musa, Lilian Musch, Julien Neisius, Mariella Pierza, Álvaro Jose Sanchez Rosero, Levin Tosun, Mathilda Tzitzi, Johnny Zimmermann

Regie: Joanna Praml
Text: Joanna Praml, Dorle Trachternach
Bühne und Kostüme: Inga Timm
Musik: Hajo Wiesemann
Musikalische Mitarbeit: Raissa Mehner, Tobias Schütte
Licht: Marco Scherle
Dramaturgie: Maura Meyer, Dorle Trachternach

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