Alina Pulido Garcia, Sarah Erhard, Lukas Möller, Anne Fritsch – am Münchner Volkstheater

Thema

„Ein Ort, der einen verschluckt hat und zu einer ganz eigenen Welt wurde“

Acht Tage. Vierzehn Inszenierungen. – Wir haben gemeinsam das Radikal Jung-Festival am Münchner Volkstheater besucht, die Festivalatmosphäre eingesaugt und geschaut, was die jungen Regisseur:innen umtreibt. Ein Gespräch am Tag danach über all die Eindrücke und Gefühle, über beeindruckende Inszenierungen und eine intensive Woche voller Theater.

Foto oben: Sergei Okunev
Beitrag von: am 07.05.2025

Wie geht es euch am Tag danach?

Alina Ich bin leider krank geworden im Lauf des Festivals. Und ich hatte heute meine erste Fachabi-Prüfung. Deswegen bin ich ein wenig erschöpft. Aber ich fand es eine richtig coole Erfahrung. Ich habe voll viel über Theater mitgenommen – und bin jetzt eigentlich schon traurig, dass es so schnell vorbei war.

Lukas Ich bin auch ein bisschen müde von der Woche. Ich habe viel gearbeitet in den Kammerspielen und bin dann abends immer ins Volkstheater gefahren. Da ist der Schlaf natürlich ein bisschen kurz gekommen. Aber gleichzeitig hatte ich beim Festival nie ein Gefühl von Arbeit. Ich habe mich immer gefreut, hinzufahren. Ich habe immer nette Leute getroffen und es war so eine schöne Atmosphäre des Miteinanders. Das war einfach ein Ort, der eine gute Zeit versprochen hat.

Sarah Mir geht es sehr gut. Ich habe auch parallel gearbeitet und darum geschaut, dass ich nicht zwei Stücke an einem Tag gucke. Aber dann war es so schön, das Theater und die ganze Umgebung, dass ich im Nachhinein gerne noch mehr gesehen hätte.

Wart ihr vorher schon mal so intensiv auf einem Festival und habt so viel Theater in einer Woche gesehen?

Sarah Ich komme aus einem Dorf, wo es gar nicht so ein Angebot gibt. Drum habe ich mir, als ich an den Kammerspielen angefangen habe, erstmal krass viel angeschaut. Aber nicht so viel wie jetzt beim Festival.

Lukas Ich hatte das in dieser Frequenz bisher noch nicht, dieses jeden Tag Stücke anschauen. In Hamburg war ich beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel, aber da habe ich nicht so viel angeschaut, weil ich selbst in Proben war. Ich fand es toll hier, wie einen dieser Ort so verschluckt hat und zu einer ganz eigenen Welt wurde.

Alina Ich war die letzten beiden Jahre auch schon bei Radikal Jung, habe aber immer nur ein zwei Stücke angeschaut. Letztes Jahr in den Pfingstferien habe ich mir dann so ein eigenes Festival gemacht: Ich bin nach Berlin gefahren und habe mir vier Tage lang Stücke angeschaut, auch mal zwei an einem Tag, an verschiedenen Theatern. Das war cool.

Szenenfoto aus SALLY – mein Leben im Drag „SALLY – mein Leben im Drag“ © Alessandra Fochesato

Das Festival zeigt Arbeiten von jungen Regisseur:innen. Wie jung oder radikal fandet ihr die Inszenierungen denn?

Alina Ich fand es teilweise richtig radikal. Man hat gemerkt, dass es von jungen Leuten kommt, weil viele Themen behandelt wurden, die in unserer Generation aktuell sind. Aber ich würde auch sagen, dass es krass 50-50 war. Es gab Stücke, wo man gemerkt hat, da gab es wirklich ein Anliegen und da wurde was Neues ausprobiert. Und dann gab es Stücke, die eher ins normale Theaterschema gepasst haben. Ich fand vor allem die freien Inszenierungen wie „Sally – Mein Leben im Drag“ oder „Rachel und ich“ sehr radikal und emotional. Vielleicht auch, weil die Regisseur:innen selbst gespielt haben und das Ganze sehr aus dem Herzen kam.

Sarah Ich finde auch, dass die Stücke sich krass unterschieden haben. „Weiße Witwe“ gestern fand ich das perfekte Beispiel für radikal und jung. Das ganze Stück war in Jugendsprache geschrieben und die Themen radikal auf die jetzige Gesellschaft bezogen.

Lukas Für mich kommt es ein bisschen darauf an, wie man das definiert. Radikal kann ja heißen, neue Theaterformen zu suchen und mit Traditionen zu brechen. Radikal kann aber auch eine Ehrlichkeit sein, eine Absurdität wie bei „Kohlhaas“ oder ein Aufbrechen des Sprechtheaters, ein Einnehmen junger Perspektiven. Das hat man bei allen Stücken gesehen.

Wo hat dich eine junge Perspektive besonders beeindruckt?

Lukas In „Gittersee“, wo eine junge Person machtlos in diesem Stasi-DDR-System lebt und letztendlich keinen anderen Ausweg sieht als die tragische Selbstermächtigung, den Stasi-Mitarbeiter zu ermorden. In manchen Stücken gab es auch eine Ehrlichkeit, die mich angesprochen hat und alle erreicht hat, auch die Senioren neben mir. In den Nachgesprächen hat man gemerkt, das war für alle verständlich. Das fand ich das Schöne an diesem Festival.

Szenenbild aus „Gittersee“ „Gittersee“ © Moritz Haase

Gab es etwas, das euch überrascht hat? Das ihr nicht erwartet hättet?

Sarah Nach jeder Vorstellung wurde ja für den Publikumspreis abgestimmt. Und ich fand es echt überraschend, wie unterschiedlich die Stücke wahrgenommen wurden. Es wurden eigentlich immer alle Stimmboxen genutzt. Manchmal hab ich meine Karte voller Überzeugung in die Sehr-gut-Box geworfen und die Person nach mir in die Schlecht-Box.

Wo wart ihr untereinander total uneins?

Sarah Bei „Unser Deutschlandmärchen“. Mich hat das total abgeholt, ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Ich mochte die Herangehensweise an das Spiel und war überrascht, wie viel Raum man auf dieser super kleinen Bühne erschaffen kann.

Alina Für mich war es genau das Gegenteil. Ich fand, da waren viele Klischees über Immigration und darüber, wie es ist, als Kind von Ausländern in Deutschland aufzuwachsen. Da war viel Schwarz-Weiß und viele andere Möglichkeiten kamen gar nicht vor.

Wie habt ihr den Austausch über die Produktionen erlebt?

Lukas Durch die Nachgespräche ist man direkt in den Dialog miteinander und mit den Regiepersonen gegangen. Das fand ich total schön, aber manchmal wie bei „Gittersee“ habe ich auch erstmal einen Moment gebraucht, um diese Welt wieder zu verlassen und sie zu verstehen.

Die ausgewählten Produktionen waren extrem unterschiedlich. Es gab relativ klassische Inszenierungen und sehr experimentelle. Was hat euch besonders beeindruckt?

Sarah Ich habe gemerkt, dass ich nicht so viel damit anfangen kann, wenn eine Person dasteht und sagt, ich mache das und das, aber es passiert keine Aktion dazu. Ich mag es, wenn Dinge im Zusammenspiel mit Musik und Bewegung passieren, wenn Geschichten auch über Körper erzählt werden. Auch wenn ich mit „Weiße Witwe“ nicht so viel anfangen konnte, haben mich die Bewegungselemente sehr fasziniert. Und mir ist Präzision mega wichtig, die hat auch den Witz bei „Er putzt“ ausgemacht.

Lukas Ich habe gemerkt, dass mir partizipative Sachen total Spaß machen. Ich fand es total berührend, wie in „Die Verwandlung“ Leute zusammengekommen sind, die gemeinsam ihre individuellen Geschichten erzählt haben. Da entsteht sofort das Gefühl, du bist nicht allein. Und was mir auch total wichtig ist, ist die Nutzung des Raums und das Bühnenbild. Bei „Draußen vor der Tür“ fand ich allein die Dimension der Formen spannend: wie die runde Drehbühne und die eckigen Quader zusammengespielt haben.

Alina Für mich ist eine persönliche Perspektive wichtig. Und ich mag es, wenn ich gleichzeitig neue Informationen bekomme. Das fand ich bei „Rachel und ich“ so krass: Hier wurde das Thema Holocaust aus einer neuen Perspektive und mit persönlichem Bezug ganz neu aufgearbeitet, das fand ich richtig schön.

Lukas und ich haben gestern noch „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ gesehen. Das war das Gegenteil: überhaupt kein persönlicher Bezug, eigentlich reines Infotheater. Wie ging es dir damit?

Lukas Da ist mir aufgefallen, auch im Vergleich zu anderen Stücken, die ich gesehen habe, dass es überhaupt nicht so eine Theater-Arroganz gab im Sinne von: Wir erzählen dir was und wenn du es nicht verstehst, bist du selber schuld. Manchmal geht man ja aus dem Theater und ärgert sich, weil man gerne mehr verstanden hätte. Hier hat der Regisseur und Darsteller Calle Fuhr im Nachgespräch gesagt: „Ich habe so lange blöde Fragen gestellt, bis ich die Zusammenhänge endlich verstanden habe. Und wenn ich das verstehe, versteht es auch das Publikum.“ Das hat mich beeindruckt.

Szenenbild aus „Die Verwandlung“ „Die Verwandlung“ © Sandra Then

Wenn ihr einen Preis vergeben würdet: An welche Inszenierung würde er gehen?

Sarah Ich würde sagen: „Die Verwandlung“. Bei Kafka geht es um einen Menschen, der sich in einen Käfer verwandelt und verstoßen wird. Hier standen Menschen auf der Bühne, die in gewisser Weise von der Norm abweichen und sich teilweise auch verstoßen fühlen. Das hat meine Erwartungen komplett übertroffen und eine ganz neue Sichtweise auf die Geschichte geschaffen, einen Gegenwartsbezug. Da war ich ganz nah dran.

Alina Für mich ist es „Nestbeschmutzung“. Da wurde das Thema Machtmissbrauch richtig gut nachvollziehbar. Das ist ein so wichtiges Thema, hat viel mit Feminismus zu tun und damit, wie eine Person mit einem Übergriff umgeht. Und vielleicht gibt es da gerade keine Lösung, aber wir müssen zusammen eine suchen. Das fand ich schön.

Lukas Ich musste länger überlegen. Und auch wenn ich bei „Draußen vor der Tür“ am meisten gestaunt habe, würde ich den Preis auch an „Die Verwandlung“ geben. Das war so ein ehrlicher Abend. Das Ensemble und die Regisseurin haben den schmalen Grat zwischen Betroffenheits-Kitsch und dokumentarischer Neutralität so gut getroffen. Und haben Schicksale erzählt, die ganz schön hart waren.

Ich habe dieses Festival als extrem abwechslungsreich erlebt, mich haben sehr unterschiedliche Produktionen überzeugt: Neben Calle Fuhr, der den Benko-Skandal so spannend aufbereitet hat, waren das vor allem Abende, die große Debatten sehr persönlich und emotional aufgegriffen haben. Die Drag-Performance „Sally – Mein Leben im Drag“, die Auseinandersetzung mit einer Freundschaft und dem Holocaust in „Rachel und ich“ oder auch die Beschäftigung mit Identität in „Die Verwandlung“. Da hat sich für mich die Qualität von Theater gezeigt, live und gemeinsam Themen zu verhandeln. Würdet ihr – nach einer gewissen Pause – noch mal so intensiv auf ein Festival gehen?

Alina Auf jeden Fall. Jeden Tag.

Lukas Das ist wie ein Rausch. Das Theater wird zu einem Ort, an dem du den ganzen Tag verbringen kannst. Es sind spannende Menschen da, es gibt dauernd Input. Gerade merke ich, dass es gut ist, ein paar Tage Pause zu kriegen. Aber dann würde ich natürlich wieder reinspringen. Und nächstes Jahr muss ich auf jeden Fall wieder zu Radikal Jung gehen. Das war eine so schöne Erfahrung.

Sarah Mega schön, dass wir dabei sein durften. Vielen Dank.

 

Lukas Möller

Lukas Möller: Ich bin 19 Jahre alt und mache aktuell ein FSJ in der Dramaturgie der Münchner Kammerspiele. Meine Leidenschaft fürs Theater entdeckte ich u.a. durch Mitwirkung Musiktheater-Projekte am Hamburger Theater Kampnagel, seitdem begeistert mich die Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit des Theaters, sowie seine verbindende Kraft als Dialograum der Stadt.

Sarah Erhard

© Philipp Eder

Sarah Erhard: Ich wurde 2004 geboren und absolviere gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Künstlerischen Bildung der Münchner Kammerspiele. Neben meinem Engagement im jungen Kollektiv 2024/25 und dem Mitwirken in diversen anderen Jugendtheaterclubs begeistert mich am Theater ganz besonders das Zusammenspiel von Präsenz, Bewegung, Ausdruck, Dynamik und Plötzlichkeit. Oder wie man auch sagen könnte: Ich glaub, ich mag einfach, was Theater mit mir macht.

Alina Pulido Garcia

© Emma Pacurariu

Alina Pulido Garcia: Ich wurde 2007 geboren. Obwohl es für mich nicht genügend Worte gibt, um Theater zu beschreiben, versuche ich es mit diesen: Ich habe eine riesige Leidenschaft für Theater und alles, was auf, hinter, vor und neben der Bühne passiert. Was ich jedoch am meisten liebe, ist das Aufeinandertreffen der Schauspieler:innen, die jeden Abend zu einer einzigartigen Vorstellung machen, die es so nie wieder geben wird.