Porträt auf Mülheimer Brücke in Köln: Tamó Gvenetadze

Story

Porträt: Regisseurin und Autorin Tamó Gvenetadze

Autorin und Regisseurin Tamó Gvenetadze möchte mit kritischer und gleichzeitig gefühlvoller Regie ein breites Publikum erreichen. In ihren Stücken verarbeitet sie weiße Privilegien und Identitätsfragen.

Foto oben: Martina Jacobi
Beitrag von: am 01.05.2024

„Theater ist kein Netflix, es ist kein Angebot-Nachfrage-Business“

In der ersten Textfassung ihres Stücks „EUdaimonía“ (Premiere am 15.11.24 am Theater Plauen Zwickau) schreibt Autorin und Regisseurin Tamó Gvenetadze von der Europäischen Union als einem utopischen Versprechen von Glückseligkeit. Eine Art „European Dream“, der an Vorstellungen und Identitätszuschreibungen scheitern muss. In dem Stück gibt es drei Figuren: Dea (Medea), Erekle (Herakles) und – „Die Bürokratie“. „Meine Pause startet in … jetzt!“, ruft diese Dea zu, die in der Endlosschleife ihres Einbürgerungsverfahrens gefangen ist. Im Wartezimmer lernt Dea Erekle kennen, ein Herakles mit posttraumatischer Belastungsstörung, denn schließlich hat er versehentlich Frau und Kind umgebracht. Auch er ist am Scheideweg zur Einbürgerung. Und Medea wird in dem Stück zum ersten misslungenen Beispiel europäischer Integrationspolitik erklärt. Mit feiner Ironie zeichnet Tamó Gvenetadze in „EUdaimonía“ verquere Identitätsfindung sowie Bürokratie und verarbeitet damit auch ihre eigenen Erfahrungen.

Ich spaziere mit Tamó Gvenetadze bei einem ersten Treffen durch die Kölner Innenstadt und am Rhein entlang. Gleich am Dom erzählt sie mir von ihrem ersten Ankommen in Deutschland. Mit achtzehn Jahren zog sie von ihrem Geburtsort Kutaissi, mit knapp 150.000 Einwohner:innen die drittgrößten Stadt in Georgien, als Au-pair nach Eching bei München, hat geputzt, auf Kinder aufgepasst und Frühstück gemacht. Ihr war klar: Sie wollte künstlerisch arbeiten. Mit 19 bewarb sie sich an der Münchner Filmhochschule, „ich war so unerfahren, wie man es nur sein konnte“ – und trotzdem war diese erste Absage schmerzhaft. Schließlich studierte sie Theaterwissenschaft in München und da entstand 2017 ihr erstes Stück: „Der Himmel über Tiflis.“

Schauspieler, links daneben ein krevettenartiges Kostüm Stefan Hunstein in „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ © Birgit Hupfeld

Das Stück nach Dawit (Dato) Turaschwilis dokumentarischem Roman „Westflug“ beschreibt den Versuch sieben junger Menschen der georgischen Intelligenzija, der intellektuell geprägten Gesellschaftsschicht, 1983 eine Aeroflot-Maschine zu entführen, wobei mehrere Personen, darunter Entführer:innen wie Personal, ums Leben kamen. Bis auf die damals 19-jährige Tina Petviashvili wurden alle Überlebenden der Gruppe zum Tode verurteilt und hingerichtet. „Das Buch ist für meine Generation, Künstler:innen und junge Leute sehr relevant gewesen“, erzählt Tamó Gvenetadze. Es geht um die georgische Identität. „In Georgien geht es super oft um dieses ‚Sich-definieren‘ durch Abgrenzung. Man muss georgisch sein, um sich gegen Russland zu schützen, was nachvollziehbar ist, mir aber auch Bauchschmerzen bereitet.“ Für die einen waren die Flugzeugentführer:innen eine terroristische Gruppe, für die anderen waren es Freiheitskämpfer:innen, die versucht haben, aus der sowjetischen Realität zu entkommen.

Hamlet als Ally

Tamó Gvenetadze kommt nicht aus der Intelligenzija, sondern aus „armen Verhältnissen“, sagt sie. „Menschen, die sich damals nicht in diesen Kreisen bewegt haben, wussten nicht, dass es Pink Floyd oder Jeans gibt. Gefangen in ihrem ‚Alltagsstrudel‘ wussten sie nicht einmal, dass da irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang noch eine Welt war.“ Eine Welt, welche die Regisseurin in ihren Bann zog. Mit ihrer Cousine verbrachte sie die heißen Sommer damit, illegal heruntergeladene Filme zu schauen und zu analysieren: „König, Dame, Bube“, Fellini und Kubrick. Ein Katalysator für den „European Dream“ war außerdem Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“, Titelinspiration für das erste Theaterstück in München.

Ein künstlerisches Studium in der georgischen Hauptstadt Tiflis war für Tamó Gvenetadze keine Option. Für die Finanzierung hätte sie ohne mögliche Unterstützung der Eltern nebenher arbeiten müssen, was zeitlich einfach nicht vorgesehen sei. Als Ältere von zwei Schwestern hatte sie auch immer ein Gefühl der Verantwortung gegenüber ihrer Familie und deren Erwartungen an sie. „Mir wurde oft gesagt, ‚Du bist schön, du kannst gut heiraten‘. Das fand ich so absurd, ich bin doch kein Ding!“

Tamó Gvenetadze © Martina Jacobi

Als Regieassistentin ging sie von 2018 bis 2021 ans Schauspiel Bochum, gleich mit der ersten großen Assistenz bei Johan Simons „Hamlet“. „Das war wirklich absurd“, erinnert sich Tamó Gvenetadze, „bis zur zweiten Hauptprobe hatten wir nicht einen gesamten Durchlauf!“ Doch alles ging gut, das Ensemble mit Sandra Hüller trug das Stück: „Wie schnell das mit Sandra dann ging, wie sie die jungen Kolleg:innen auffangen konnte, das war sehr auf Augenhöhe.“ Bis heute ist Hamlet eine Figur, die die Regisseurin fasziniert. „Ich habe das Gefühl, Hamlet kommt mit diesem ganzen Nepotismus nicht klar. Wenn Hamlet in unserer Zeit leben würde, könnte er vielleicht seine Wut mehr in Aktivismus umwandeln als sie gegen sich selbst zu richten und daran kaputt zu gehen. Das würde ich ihm wünschen“, sagt Tamó Gvenetadze.

Weiße Privilegien

Nach „Hamlet“ ist das am zweitmeisten aufgeführte Stück am Schauspielhaus Bochum gerade Tamó Gvenetadzes erste eigene Regiearbeit am Haus: „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ nach David Foster Wallace. Premiere war im Juni 2021, die Inszenierung ist jetzt schon in der vierten Spielzeit wiederaufgenommen. Entstanden ist das Stück in der Coronazeit als Kritik am durch die Pandemie fürs Erste erliegenden Kreuzfahrttourismus. Auf Anna Wörls Bühne mit Liegestuhl, Sommerdrinks und Minigolfplatz lädt Tamó Gvenetadzes Inszenierung, eine Solo-Performance von Schauspieler Stefan Hunstein, zum Nachdenken über banale Absurditäten und weiße Privilegien ein, die David Foster Wallace auch bei sich selbst hinterfragt habe, findet Tamó Gvenetadze.

Gerade folgt die Regisseurin einer neuen Generation weiblich gelesener Autorinnen wie Alice HastersFatma Aydemir und Bell Hooks. Feministische Themen zeigen sich auch in ihrer momentanen Auseinandersetzung mit historischen Figuren wie in „EUdaimonía“. „Medea ist halt deswegen missverstanden, weil sie fremd oder anders war“, sagt Tamó Gvenetadze, „die Gesellschaft checkt sie nicht und wenn Menschen im herrschenden System nicht gedacht sind, werden sie marginalisiert.“ Zu Klassikern hat sie eine klare Haltung: „Wir müssen Sachen gehen lassen, die unsere Gesellschaft nicht mehr widerspiegeln. Wir sind am Theater manchmal zu sehr damit beschäftigt, vorhandene Textstrukturen zu modifizieren, als Neues zu schreiben.“ In der Hinsicht wünscht sich die Autorin mehr Förderung in neue Dramatik.

Mensch, nur als Schemen hinter Plastikplane zu sehen Risto Kübar in „Wo steht dein Maulbeerbaum?“ © Birgit Hupfeld

Für Tamó Gvenetadze sollen Stücke eine Aussage haben und gleichzeitig berühren können, sollen die Grundlage für intelligentes und trotzdem gefühlvolles Theater sein. Und sie sollen möglichst viele ansprechen können. „Theater ist kein Netflix, es ist kein Angebot-Nachfrage-Business, und trotzdem kann man gesellschaftskritische und -relevante Stücke machen, die nicht abgehoben sind“, sagt sie, „das hat viel damit zu tun, wie ich mich als Künstlerin wahrnehme und wie ich denke. Ich inszeniere nicht, weil ich mich selber für so wahnsinnig schlau halte. Ich inszeniere emotional, so kann ich vielleicht eher zum Publikum durchdringen.“

Hierarchie unter Menschen

Genau das schafft sie in ihrem Stück „Wo steht dein Maulbeerbaum?“, ein Stück übers Auswandern und Noch-nicht-ankommen, das 2023 in Bochum uraufgeführt wurde und wofür sie in der NRW Kritiker:innen-Umfrage 2023 und in der Kritiker:innen-Umfrage des Theaterverlags 2023 als beste Nachwuchskünstlerin nominiert wurde. In einem mit Plastikplanen umwandeten Dreieck wälzt sich Schauspieler Risto Kübar auf dem Boden und findet nicht heraus. „Das ist meine Wut“, erinnert sich Tamó Gvenetadze an die Szene, „ich beabsichtige nicht, diese Wut irgendwo reinzuschreiben. Da sie aber die logische Schlussfolgerung aus dem ist, was mich gerade beschäftigt, färbt sie auf mein Werk ab.“ Was sie als Autorin beschäftigt, sind unter anderem Identitätsfragen. Mittlerweile ist sie deutsche Staatsbürgerin, wofür sie noch den georgischen Pass abgeben musste. „Offensichtlich haben Menschen, die bestimmte Pässe haben, Privilegien, obwohl der Geburtsort der reine Zufall ist“, sagt die Regisseurin, „wann ist man denn deutsch oder georgisch? Hier wie da hat man nur einen Wert, wenn man etwas geleistet hat. Bei jemandem wie Nino Haratischwili ist Georgien dann stolz auf seine Leute.“

Wenn Deutschland und Georgien etwas seien, dann so vielfältig wie ihre Traditionen. Was Zuschreibungen natürlich nicht ausschließt: „Diese Hierarchie unter Ländern – ich selbst schreibe Europa zu, das es besser ist, Dinge besser kann, besser weiß als ich. Ich dachte immer, ich muss da auf was hinarbeiten, damit ich genauso werde.“ Tamó Gvenetadze hat aus ihren eigenen Erfahrungen viel mitgenommen. Sie interessiert sich für Schicksale, beschäftigt sich gerne mit Menschen und Politik. „Wenn ich in Georgien geblieben und nicht Regisseurin geworden wäre, wäre ich hoffentlich politische Aktivistin geworden“, erzählt sie lachend.

Gerade hat Tamó Gvenetadze in Annaberg-Buchholz, wo sie in dieser Spielzeit zuletzt Regie in „Schwester von“ am Winterstein Theater geführt hat, Interviews mit Einwohner:innen für ein neues Stück gemacht, wie „EUdaimonía“ im Rahmen des Chemnitz 25 Projekts. Parallel hat sie die künstlerische Leitung des diesjährigen viertägigen UnruhR-Festivals für Jugendclubs inne, Gastgebertheater ist dieses Jahr Castrop-Rauxel. Die Arbeit mit den Jugendlichen, Stückentwicklungen in Teamarbeit sowieso machen ihr viel Spaß. Besonders die Momente, in denen es gelingt, Szenen zu „knacken“, „da ist dann Gänsehaut im ganzen Raum.“