Kritik

„Under Pressure“ aus den Sophiensaelen

Livestream beim Theatertreffen: 19. Mai 2021

Foto oben: Dorothea Tuch
Beitrag von: am 20.05.2021

Schauspiel unter Hochdruck

Der Abend startet mit 20 Minuten Verspätung. „Das war mein Fehler. Ich hab‘ das auf die Technik geschoben, aber das war gelogen“, wird Anna Fries beim Schlussapplaus gestehen. „Wir haben unser Bestes gegeben, besser ging‘s leider nicht.“ So fordert sie „Applaus fürs Mittelmaß“. Anna moderiert die interaktive Performance „Under Pressure“, die am Mittwochabend aus den Sophiensälen im Rahmen des Berliner Theatertreffens live gestreamt wurde. Damit sagt das Kollektiv Henrike Iglesias, bestehend aus Anna Fries, Eva G. Alonso, Laura Naumann, Malu Peeters, Marielle Schavan, und Sophia Schroth, der Leistungsgesellschaft den Kampf an. Statt Leistungsdruck fordern sie eine Kultur des Scheiterns, denn sie fragen sich: Warum findet unsere Gesellschaft es so schlimm, wenn Leute Fehler machen?

Fehler stellt Anna hier jedoch knallhart zur Schau. Sie übernimmt in dem als Castingshow konzipierten Stück die Rolle der fiesen Moderatorin, die den drei sportlich gekleideten Kandidatinnen Aufgaben in verschiedenen Kategorien stellt. So bekommen sie eine Minute Zeit, um sich möglichst vorteilhaft selbst zu inszenieren. Kandidatin Sophia stemmt eine Hantel in die Luft und bläst anschließend mit mysteriösem Blick farbigen Dampf in die Kamera. Laura fährt Rollschuh-Kreise über die neonblaue Bühne. Und Marielle springt mit einem leuchtenden Ring vor die Kamera und zieht Grimassen. Das Publikum bildet die Jury. Wer hat den besten Auftritt hingelegt? Darüber stimmt es am Handy ab. Marielle schneidet am schlechtesten ab und wird von der Moderatorin bloßgestellt: „Um sowas zu sehen, klappen die Leute doch nicht den Computer auf!“, fährt Anna sie an. Während sie selbst also in einem betont absurden Hochleistungs-Wettkampf stecken, greifen die Performerinnen das System immer wieder an, das sie zwingt, zu konkurrieren. „Mein Leben fühlt sich an wie ein einziger Wettbewerb“, klagt etwa Marielle, und Sophia fügt lax hinzu: „Ich kack generell immer ab.“ Im Folgenden werde sie also darauf setzen, die Herzen des Publikums zu gewinnen. Laura erzählt keuchend von ihrer ersten Erinnerung an Leistungsdruck, während sie durch einen Greenscreen-Tunnel rennt, in dem rasant die Lichter zucken: „Mein Lehrer hat damals zu mir gesagt, wenn du dich nicht mehr anstrengst, musst du Klofrau werden.“ Laura zählt in einem bewegenden Monolog die Zwänge ihres Alltags auf: „Ich brauch einen Impftermin, muss dringend mal wieder zum Friseur, die Wohnung putzen, den Wasserhahn entkalken…“, bevor sie dann verzweifelt zusammenbricht und sich Vorwürfe macht, weil sie es nicht geschafft hat, den Monolog auswendig zu lernen. Das mache sie normalerweise auf der Zugfahrt, aber die sei ja weggefallen.

Screenshot von "Under Pressure"

Die Performance scheut auch nicht davor zurück, sich selbst unter die Lupe zu nehmen: „Hat es „Under Pressure“ verdient, beim Theatertreffen gezeigt zu werden?“, fragt die Moderatorin etwa. Als Sophia von ihren Selbstzweifeln spricht, unterfüttert sie diese: „Du weißt genau, dass die anderen viel mehr fürs Kollektiv machen. Die haben dich bald durchschaut und schmeißen dich raus!“ Das Publikum wird währenddessen weiter mit Fragen bombardiert, über die es abstimmen soll: Wer der drei ist am jüngsten, schlausten, gesündesten, schönsten? Mit wem hätten Sie gern ein Kind? Im Chat rufen Mitglieder des Publikums vereinzelt zum Boykott der Abstimmungen auf. Aber die Mehrzahl stimmt weiter ab und präsentiert so die eigenen Vorurteile und Projektionen. Für wen das Publikum am meisten gestimmt hat, gewinnt die jeweilige Runde. Die Gewinnerin strahlt am Ende schwer mit Medaillen behängt in die Kamera und das Publikum entscheidet sich für eins von zwei möglichen Enden für das Stück. Gespielt wird dann aber doch das andere. Das Wunschende haben sie nicht mehr geschafft aufzuzeichnen. Aber egal, denn: Perfection is for assholes! Dem Kollektiv gelingt an diesem Abend das Vorhaben, durch ironische Zelebrierung derselben die Leistungsgesellschaft kreativ zu kritisieren. Streckenweise wirkt die Gesellschaftskritik jedoch gewollt, und die sich aneinanderreihenden Abstimmunsgfragen ermüdend. So bleibt am Ende trotz der Bewunderung für die kreative Performance und ihre Akteurinnen die Frage: Was nehme ich jetzt draus mit, außer der Feststellung, dass die Leistungsgesellschaft böse ist?

„Under Pressure“ ist am Donnerstag, 20. Mai 2021, noch bis Mitternacht beim Theatertreffen abrufbar.

Der Radikal Blog von junge bühne und Münchner Volkstheater ist gestartet. Bleibt dran!