Kritik

„Werther Live“

Online
November 2020

Beitrag von: am 06.11.2020

Digitale Gefühle

Langweilige Schullektüre für die einen, immer wieder gelesenes Lieblingsbuch für die anderen: „Die Leiden des Jungen Werther“ kennen wir als Briefroman von Goethe, geschrieben 1774. Hoffnungslos antiquiert also? Nein, sagt das Team von „werther.live“ und holt den Stoff in einer interaktiven Online-Version ins Jahr 2020.

Premiere: 5.11.2020

„Schön, dass Du da bist. Stelle die Videoqualität am besten auf 1080p“, werde ich im Livestream begrüßt. Dann ertönt ein Gong. Der weckt Erinnerungen: Vor der Vorstellung im Foyer zu sitzen, aufgeregtes Geschnatter um dich rum. Hach, war das schön. Zum Hinterhertrauern ist das Team von „werther.live“ aber nicht angetreten, ganz im Gegenteil. „Abgefilmte Bühnen? Theatermonologe vor Webcams? Das ist hier fehl am Platz. Wir glauben, dass digitales Theater eine neue Form des Erzählens möglich macht.“ Mit dieser klaren Ansage will die Gruppe „Die Leiden des jungen Werther“wieder neu zugänglich machen.

Chips mampfend sitzt Wilhelm (Florian Gerteis) da. Inception-mäßig läuft schon der Abspann des Stücks über seinen Bildschirm. „Digga, dass du dich wegen ‘nem Girl umbringst, ist das nicht ein bisschen melodramatisch?“ So nimmt er im Zoom-Gespräch mit Werther flapsig das Ende der Geschichte vorweg. „Fuck you, ey“, erwidert Werther (Jonny Hoff) lachend. Schon in den ersten Minuten wird klar: Scheue Originaltreue ist hier nicht an der Tagesordnung. Stattdessen lassen die Spielenden ihre Jugendsprache unverblümt fließen. Und machen das so locker und überzeugend, dass man das Gefühl hat, in eine echte Online-Konversation hineingesogen zu werden.

Per Bildschirmübertagung verfolgt das Publikum Werthers Online-Aktivitäten. Die Charaktere tauchen also nur in Videotelefonaten selbst auf dem Bildschirm auf, ansonsten sind sie in ihren Mausbewegungen und Hintergrundgeräuschen präsent. Werthers Cursor schwebt zögernd über seinem Instagram-Feed. „Jonny Go! „, ruft Regisseurin Cosmea Spelleken rein. Nicht für unsere Ohrengedacht, muten solche Einrufe doch menschlich an, und lassen erahnen, was für ein technisches Wunder es eigentlich ist, dass hier alles so glatt läuft, wie es das an diesem Premierenabend ansonsten tut (Technik: Leonard Wölfl).

Ein Anruf unterbricht das Zoom Gespräch von Werther und Willy. Es ist Charlotte Stein (Klara Wördemann). „Ich ruf an wegen des Buchs das Sie bestellt haben.“ Die beiden tänzeln aufgeregt zwischen Siezen und Duzen, zwischen professionellem Verkaufsgespräch und persönlichem Interessehin und her. Und landen schließlich im WhatsApp-Chat, wo Werther direkt Lottes Profilbild auscheckt.

Freundschaftsanfrage an Werther

„Wow, das sind aber viele Geschwister!“ – „Wofür brauchst Du das Buch eigentlich?“ – „Ich arbeite viel an Collagen und dafür brauche ich neues Material“. So kommen die beiden ins Gespräch und verabreden sich zu einem „Treffen im digitalen Raum“. Werthers Collagen kann das Publikum schon im Vorfeld bei Instagram bewundern (Collagen: Pia Matthes, Su Lu und Cosmea Spelleken). Denn jeder der Charaktere hat eine echte Online-Präsenz. So kann man Werther, Lotte oder Albert eine Freundschaftsanfrage schicken und mit ihnen in Kontakt treten. Die Posts reichen zurück bis in den Sommer. Bei Lotte finden sich Fotos im Reto-Chic, oft mit ihrem Freund Albert (Michael Kranz). #lieblingsmensch, #candlelightdinner und rote Herzen. In diese Idylle grätscht Werther bald hinein.

Bei einem Glas Wein unterhält er sich mit Lotte auf Zoom, draußen wütet ein Gewitter. Eine Lebensrealität, in der viele sich aktuell wiederfinden dürften. Sie lachen unsicher, machen lange Pausen, warten geduldig auf die wohlüberlegten Antworten ihres Gegenübers.

Wie verliebt man sich digital? Werther liket Lottes Fotos, schwärmt von ihr in Sprachnachrichten an Willy. Schickt ihm Fotos. Willy: Ohaaaa, viel zu hübsch für dich! Lachender Smiley. Aber da ist ja leider noch Lottes Freund Albert. Der macht humanitäre Arbeit, wie sein Profil verlauten lässt. Natürlich wird das direkt von Willy und Werther kommentiert. „Alter, was für ein Gutmensch. Der ist ja fucking Jesus!“ „Boah Digga, das ist unser nächster Bundespräsident!“

Von der Schreibmaschine zum Videocall

Solche Chat-Sessions unterbrechen Zwischensequenzen, in denen die Charaktere zu ruhiger Gitarrenmusik (Musik: Jonas Rausch) ihre Gedanken in eine Schreibmaschine tippen. So schafft das Stück den Spagat zurück zum Original – und Goethes Briefroman erhält doch noch im Originalwortlaut Einzug ins Digitale.

Irgendwann muss Lotte sich entscheiden. Kontaktabbruch mit Werther. Sein Mauszeiger arbeitet an einer neuen Collage. Im Hintergrund zieht er den Rotz hoch, die Schluchzer bleiben ihm im Rachen stecken. Sein Schmerz wird durch den Bildschirm deutlich spürbar. In über den Bildschirm huschenden Großportraits von Lotte manifestiert sich schließlich sein Liebeskummer, unterlegt von einer Kakophonie aus deren gemeinsamen Liedern. Die Verzweiflung schwappt über, Werther steuert seiner persönlichen Katastrophe entgegen.

Die Bildschirmübertragung hat etwas intimes, ist doch der eigene Laptop besonders in letzter Zeit zu einer Schatulle des persönlichen sozialen Lebens geworden. Auch wenn die Charaktere nicht zu sehen sind, sind sie doch in ihren Cursorbewegungen oder ihrem Tippen sehr präsent. Die Schreibmaschinen-Interludien bieten einen sinnliche Ruhe-Oase zwischen dem geschäftigen Online-Treiben. Und die Originalbriefe kontrastieren zwar die jugendliche Chat-Sprache der Charaktere, ergänzen aber deren Vintage-verliebte Online-Präsenz perfekt. Angesichts ihre Literaturliebe hat der Ausdruck im getippten Brief auch nichts Unpassendes, sondern hebt das übrige Geschehen auf eine andere Ebene. Dem Team von „Werther.Live“ gelingt es also eindrucksvoll, ihr Versprechen, eine neue, digitale Form des Erzählens zu schaffen, einzulösen.

„werther.live“ läuft am 15. und 16. 11., sowie am 4. und 6. 12.. Livestream und Tickets findet ihr unter werther-live.de.

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