Kritik

Zum Zerreißen gespannt

„Frühlings Erwachen“
Theater Bremen
Januar 2020

Foto oben: Jörg Landsberg
Beitrag von: am 17.01.2020

Am Theater Bremen stellen sich derzeit elf junge Männer zwischen 14 und 21 Jahren ausgehend von der „Kindertragödie“ Frank Wedekinds Fragen über sich und die Gesellschaft in der sie aufwachsen, über das Erwachsenwerden und alle Schwierigkeiten, die das mit sich bringt. 

Premiere: 16. Januar 2020

Überwältigend viel los. Am Körper sprießen Haare, Drüsen, Pickel, in ihm ganz neue Gelüste, durchs Hirn tosen dazu die großen Fragen: Wer bin ich, was soll ich hier und ist Sex mehr als Ficken? Der junge Mensch will in die Welt. Es gibt zwar nicht mehr die Eltern und Lehrer in einer von antiquierter Prüderie, restriktiver Moral, verwirrender Bigotterie und unverhohlener Brutalität beherrschten bürgerlichen Welt der wilhelminischen Gesellschaft, der die freiheitsdurstigen Entwürfe der Jugend ein Gräuel waren wie in Frank Wedekinds Aufklärungssatire „Frühlings Erwachen“ (1891). Aber die emotionale Grundierung der dort verhandelten Auseinandersetzungen scheint zeitlos aktuell beim Erkunden und Überschreiten der Grenzen des Erlaubten. Haben sich doch all die Versagensängste und Unsicherheiten bei der Suche nach Identität, Normen, Regeln, Lebenszielen, Liebe und sexueller Orientierungen nicht verändert, hinzugekommen ist nur die medial vermittelte Übermacht der Bilder und des theoretischen Wissens. Darum geht ins in dem Projekt „Frühlingserwachen“ am Theater Bremen.

Zum Zerreißen gespannt, in ständiger Bewegung, schutzlos sich allen Impulsen ausliefernd entern elf nach außen oder nach innen gekehrte Bremer – die 14 bis 21 Jahre alte, herrlich diverse Laienspielerschar der Jungen Akteure – das Bühnenbild. Mit dem das Theater Nachhaltigkeitspunkte sammelt. Hat Regisseurin Alize Zandwijk es doch bereits 2018 für ihre Suche nach „Amour“ genutzt: betongraue Wände, kopfhoch holzvertäfelt, blickdicht verschmutzte Fenster, frisch gebohnerter Fußboden in PVC-Anmutung, Baskettballkörbe und eine abgerockte Dusche. Diese perfekt schäbige Schulturnhallen-Illusion ließ Thomas Rupert im 1960er-Jahre-Design bauen. Jetzt ist sie ein prima Spielplatz für Initiationsriten des Erwachsenwerdens. Im Probenprozess hat das Ensemble nach und nach mit seiner Sprache, eigenen Texten und biografischen Geschichten das Stück Wedekinds überschrieben. Zandwijk nimmt die Äußerungen auch in ihrem Pathos ernst und lässt alles leichthändig erblühen.
Sport steht an. Sich austoben. Was im Theater auch meint: sich ausdrücken. Also Alltagsklamotten ablegen. Die dabei zum Vorschein kommende Vielfalt an Unterhosen und darüber gezogenen Fitnessklamotten, aber auch die Andeutungen des sozialen Status in der Gruppe erzählen bereits etwas über die sich frisch formulierenden Charaktere. Mehr ist ganz beiläufig zu erfahren, wenn sie sich beim Basketballspielen einbringen, Körper- und Selbstbewusstsein in Dehnungsübungen vereinen, sich verloren an einer Wand herumdrücken oder lebenslustig in rhetorischer Prahldiktion und aufgemotzten Gebärden auftrumpfen. Plötzlich die Frage: „Wie war es denn?“ Gekicherte Neugier allenthalben. Bis Luca Fraßmann zugibt: „Ich war zu aufgeregt, ich habe keinen hoch bekommen.“ Andere müssen antworten, ob sie überhaupt schon mal ein Mädchen nackt gesehen haben. „Sind deine Schamhaare eigentlich auch rot?“, wird sich beim Rotschopf Ismaeel Foustok erkundigt. „Ich dusche nie nackt“, sagt Ayman Abdulazeez und wird dafür verhöhnt. Ob er einen winzigen Schwanz zu verbergen habe? Schnell ist in ihm ein Außenseiter gefunden, was in Gewalt gegen ihn umschlägt – bei Wedekind war noch die Sehnsucht nach Berührung dazu Auslöser. „Mann, der schämt sich, der kommt aus einer ganz anderen Kultur“, versucht Muhannad Al Baradan zu beruhigen.

Immer wieder tritt ein Heranwachsender als Darsteller seiner selbst aus der Gruppe hervor. Matti Weber weiß so gar nicht wie das geht mit dem Küssen. Aaron Lampe erklärt ihm die Grundlagen, beschreibt das zu erwartende Gefühl – „das ist wie vom 10-Meter-Turm springen“ – und lässt aus seinem Handylautsprecher Dean Lewis Schmachtfetzen „Waves“ erklingen, während Muhannad mit einer innigen Kuss-Darbietung in die Praxis einführt. Alle anderen jungen Männer summen derweil das Lied mit, verschwinden in ihren Knutschfantasien und absolvieren eine Choreografie zum Thema verträumtes Schleichen. Es dauert einige Zeit, bis das Jungsgetue mit den derben Gackergesprächen wieder auflodert. So funktioniert der Abend: erst das Outing einer typischen Pubertätsnot, dann die Übersetzung in sportive bis tänzerische Bewegung.

Wenn Milan Wiese seinen allnächtlich bitterlich geweinten Weltschmerz verkündet, wird er von einem Jungen zärtlich vom Boden gehoben, durch den Raum getragen und zum Tanzen animiert – als Versuch der Befreiung. Wenn Ben Grindel zu Muhannad beim Zuspiel des Basketballs sagt, „fang die Handgranate, du Flüchtling“, fragt dieser nach Minuten des betroffenen Schweigens, ob jemand wisse was es heißt, seine Heimat zu verlieren. Und berichtet vom Kampf seiner Familie gegen den syrischen Machthaber Baschar al-Assad, von Krieg, Terror, Armut und Flucht. Solidarische Gruppenbildung folgt. Und eine Märchenerzählung von zweiköpfigen Wesen. Ja, so fühlen sie sich. „Ich habe zwei Seiten“, sagt Ismaeel, „meine deutsche und meine syrische. Wie soll ich mich entscheiden? Ich bin hier anders und ich bin da anders.“ Sofort gibt es mutmachendes Schulterklopfen und aufmunternde Ansagen: gruppendynamische Harmonisierung.

Egal ob dann noch Esstsörungen, Einsamkeitsempfindungen, Depressionen, Suizidgedanken artikuliert werden, ein Ich-habe-keine-Ahnung-wer-ich-bin-Gedicht zu Gehör kommt oder Aaron meint, er können sowieso keine vernünftige Beziehung führen, da er gerade nicht die gewünschte Version von sich am Start habe – stets enden die Szenen voller Achtung, Verständnis, Zuneigung und Respekt. Auch als der immer abseits sitzende, Finger knetende, verklemmt zu Boden blickende Aziz Kaya seinen Jungsklamotten entsteigt, sich als tragische Protagonistin des Wedekind-Stücks bezeichnet, „ich bin Wendla“, und im roten Kleid playback Adele mimt, deren Song „All I ask“ in voller Länge ausgekostet wird. Sogleich wird Aziz von Ayman angebaggert, während die Kumpel den Einpeitscher-Chor des Tête-à-Têtes bilden, das dann körpersprachlich ausformuliert wird. Ayman greift hilflos mackerhaft zu Boxer- und Hip-Hopper-Bewegungen, Aziz glänzt mit der femininen Eleganz einer Popsängerin. Anschließend zeigt das Ensemble, wie Kampfsportdarbietungen zu elastischen Pas de deux mutieren und in innigen Umarmungen münden können. Wie in so einem Wohlfühlfilm made in Hollywood wird jeder Konflikt, jedes existenzielle Problem, jede Ausgrenzung sofort weggekuschelt, was die Kitschseele in uns Zuschauern jubilieren lässt, aber eben auch den Eindruck heraufbeschwört, es gäbe gar keine Konflikte, Probleme, Ausgrenzungen. Zandwijks Inszenierung und Tomas Büngers Choreografie sind ein Traum vom idealen Miteinander. Da ist Wedekinds Vorlage ein Gegenentwurf. Nehmen dort die Auseinandersetzungen doch die schlimmstmögliche Entwicklung, die Protagonisten sterben oder bringen sich um. In Bremen haben sich alle ganz doll lieb. Das ist schön, hat aber mit der Realität auf Schulhöfen, in Turnhallen oder auf Streetball-Arealen wenig zu tun. Die Performance der Jungen Akteure ist allerdings von beeindruckender Präsenz, Spielfreude und Offenheit, „Frühlingserwachen“ eine herausragend professionelle Jungbürgerbühneninszenierung. Jens Fischer

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