Kritik

„Selbstvergessen“ am Deutschen Theater Berlin

Online-Premiere: 17. April 2021

Foto oben: Arno Declair
Beitrag von: am 19.04.2021

Nichts bleibt vergessen

Wenn ein Mensch an Demenz erkrankt, dann erkennt er irgendwann sogar seine eigene Familie nicht mehr. Umgekehrt erkennt auch diese den Demenzkranken nicht mehr. „Ich bin in dem Moment erwachsen geworden, als mein Opa krank geworden ist, (…) als ich gemerkt habe, dass es uns alle betrifft, (…) als ich ihn schreien und jaulen gehört habe“, sagt die 17-jährige Paula. Demenz betrifft nicht nur den erkrankten Menschen, sondern auch alle, die ihm nahestehen. Angehörige lernen die vertraute Person neu kennen und bewahren die Erinnerungen, die diese Stück für Stück vergisst.

Paula ist eine von sechs jungen Darsteller:innen des jungen DT. Mit ihren Mitspieler:innen hat sie unter Regie von Gernot Grünewald das Stück SELBSTVERGESSEN im Deutschen Theater Berlin entwickelt. Die sechs jungen Menschen haben gemeinsam, dass real eine:r ihrer Großmütter oder Großväter unter Demenz leidet. Für SELBSTVERGESSEN haben sie sich – wo möglich im Gespräch mit ihren Großeltern – mit Erinnerung und Vergessen auseinandergesetzt. Die Produktion für den Live-Stream hatte am 17. April 2021 online Premiere.

Lasse erzählt, wie er sich als Kind bei seiner Großmutter geborgen und sicher gefühlt hat, wie sie ihm Spiele vorgeschlagen und seinem Tag Struktur gegeben hat. Heute haben sich die Rollen verkehrt und Lasse ist seiner Großmutter dabei behilflich, ihre Post zu beantworten oder schlägt ihr einen Besuch bei der Nachbarin vor. Heute schenkt der Lasse seiner Oma Sicherheit und Geborgenheit. Die Erinnerungen seiner Großmutter an das eigene Leben und das gemeinsam Erlebte, gehen ihr verloren. Lasse bewahrt sie nun für sie beide auf – und erzählt anderen davon. Die Zeit mit seiner Großmutter hat ihn geprägt – genauso wie deren Lebengeschichte, von der sie ihm erzählt hat. Die Erinnerung daran macht Lasse zu dem, der er ist. Aber wer ist man dann noch, wenn man sich an nichts mehr erinnert, wie bald schon seine Großmutter?

Videoprojektionen überlagern das Geschehen auf der virtuellen Bühne mit Hologrammen von den Gesichtern der demenzkranken Großeltern. Sie zeigen eine Hülle ohne Inhalt. Selbst die Verbindungen zwischen den einzelnen Punkten im Netz dieser Hologramme lösen sich eine nach der anderen auf wie die Synapsenverbindungen und Nervenzellen im Gehirn eines an Demenz erkrankten Menschen.

Wie fühlt es sich an, sein Gedächtnis zu verlieren? Die sechs jungen Menschen schlüpfen in die Haut ihrer Großeltern und erkunden, was es bedeutet, die eigene Geschichte, die eigenen Kinder, selbst den eigenen Namen nicht mehr zu erinnern. Buchstäblich schlüpfen sie in die Haut ihrer Großeltern, indem sie Masken mit deren Gesichtern aufsetzen. Verloren irren diese jung-alten Menschen durch ein Labyrinth aus trüben Glasscheiben. Darauf scheinen in Video-Projektionen immer wieder Bilder aus der Vergangenheit auf: Opas Garten, Omas Passbild, Opa, wie er Paula als Baby auf dem Arm trägt. Im Stream überlagern sich die Projektionen von alten Fotos, Filmen, Hologrammen und Masken mit den Gesichtern der Jugendlichen, die jetzt, in diesem Moment, tatsächlich auf der Bühne des Deutschen Theaters stehen und vielstimmig von der Vergangenheit erzählen. Darin bewahren sie, was ihren Großeltern entgleitet. Doch das Erinnern bleibt flüchtig: Keine Aufführung gleicht der anderen, der Text ist nicht aufgezeichnet, jede Übertragung nur live zu sehen.

Gernot Grünewald hat die Stückentwicklung in dem von Corona-Beschränkungen geprägten Proben-Prozess von der Bühne in den virtuellen Raum und zurück auf die Bühne verlagert. Entstanden ist ein faszinierendes Zusammenspiel aus Virtuellem und Realem, die sich gegenseitig verstärken. Die Überlagerungen transportieren die Vielschichtigkeit der menschlichen Existenz, wie sie sich aus Erleben und Erinnern zusammensetzt. Ohne Pathos, mit ehrlichem Interesse und erstaunlicher Empathie erforschen die jungen Darsteller:innen das Verhältnis von Ich und Erinnerung. Sie stellen sich mutig dem schmerzhaften Verlust ihrer geliebten Großeltern und der Erwartung des eigenen Alterns. Mit vermeintlich banalen Fragen und originellen Vergleichen lassen sie das Publikum an ihrem ganz persönlichen Abschied teilhaben und erschaffen damit einen Moment großer Intimität und Wertschätzung.