Anderen beim Arbeiten zuzusehen ist selten spannend, doch bei Linda Fülle schaue ich gerne zu. Sie ist Puppenspiele- rin am Figurentheater Chemnitz, und ich sehe die Vorstellung „So glücklich, dass du Angst bekommst“. Ich lache – und weine ein bisschen, bis das Licht wieder angeht. Drei Chemnitzerinnen erzählen von ihrem Leben als vietnamesische Vertragsarbeiterinnen in der DDR. Ihr jüngeres Ich steht mit ihnen auf der Bühne, verkörpert von Puppen. Die Figur verdoppelt sich, Darstellerin und Puppe begegnen sich auf Augenhöhe. Ein Zusammentreffen von der, die noch alles vor sich hat, und der, die auf das Erlebte zurückblickt. Linda Fülle ist hinter der Puppe zwar zu sehen und zu hören, und doch verschwindet sie in diesem Moment irgendwie.
Einige Tage nach der Vorstellung besuche ich das Figurentheater erneut. Dieses Mal darf ich hinter die Kulissen und setze mich mit Linda Fülle in ihre Garderobe, um mit ihr über ihren Beruf als Puppenspielerin zu reden. Wie man zur Puppenspielerei kommt, ist ganz unterschiedlich, betont sie. Bei ihr hatte definitiv die Familie einen Einfluss. Es fing mit ihrer Uroma an, die für den russischen Puppenspieler Sergei Obraszow in der DDR simultan übersetzte. Daraus folgten drei weitere Generationen von Puppenspielerinnen: erst ihre Oma, dann ihre Mutter und ihre Tante und jetzt Linda selbst. Der Beruf war daheim immer greifbar. Im Schultheater entdeckte sie selbst ihre Freude am Spiel. Überzeugt hat sie schließlich die gute Stimmung bei den Puppenspieler:innen: „Die war frei, familiär und sehr umgänglich. Ich dachte, da passe ich gut hin.“
Wie alle Ensemblemitglieder des Chemnitzer Figurentheaters hat Linda in Berlin an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Zeitgenössische Puppenspielkunst studiert. Neben Schauspiel- und Bewegungsunterricht wird hier Dramaturgie, Ästhetik und Werkstattlehre unterrichtet. Dazu kommen Akrobatik-, Tanz- und Fechtstunden. Auch Veranstaltungsmanagement lernen die Student:innen, um auf ein Berufsleben in der freien Szene vorbereitet zu sein. Denn ein festes Engagement ist eher die Ausnahme. Viele von Lindas Kolleg:innen gründen Kollektive und verwirklichen eigene Produktionen, in denen sie oft nicht nur spielen, sondern auch Regie führen, die Puppen bauen und ihre Texte schreiben.
Neben Berlin bietet auch die HMDK Stuttgart den Studiengang „Figurentheater“ an. Beide Hochschulen legen andere Schwerpunkte. Während Stuttgart stark vom Material ausgeht und einen Fokus auf den Puppenbau legt, ist in Berlin der Text zentral: „Welche Puppenart passt zu welchem Stoff? Die Handpuppe ist zum Beispiel eine schnelle Puppenart, mit der kann man rasant oder humorvoll geschriebene Texte gut umsetzen“, so Fülle. Während viele Puppenspieler:innen ihre Puppen selbst bauen, sucht sie lieber im Fundus. Geht denn alles mit Puppen? „Mir fällt nichts ein, wo ich sage: Nein, das würde ich nicht für Puppen machen.“ Wichtig ist nur, dass es handlungstreibend ist. Große Textflächen und lange Monologe sind für Puppen ungünstig. „Shakespeare eignet sich beispielsweise sehr gut für Puppentheater, das ist schnell und auch humorvoll.“
Ich will von Linda wissen, ob es Figurentheater oder Puppentheater heißt. Auch wenn damit das Gleiche gemeint ist, bevorzugt sie den Begriff Puppentheater. Schließlich ist es das, was diese Spielweise ausmacht: Eine Figur verkörpern auch Schauspieler: innen auf der Bühne, aber nur sie nimmt eine Puppe mit. Hinter dem Begriff des Figurentheaters vermutet sie eher eine Marketingstrategie, noch immer haften an dem Begriff „Puppentheater“ Klischees. Dass Puppentheater aber keineswegs nur für Kinder ist, sondern mit anspruchsvollen Stoffen jede Altersklasse ansprechen kann, das beweisen Puppenspieler: innen wie Linda Fülle täglich.
In der Probenphase für ein neues Stück probt sie meist morgens und abends. Anders als im Studium liegt hier die Konzeption ganz bei der Regie. Der/die Regisseur: in entscheidet, welche Puppenart genutzt wird und wie Linda diese spielen soll. Manchmal steht sie in schwarzer Spielerkleidung auf der Bühne, wird als Spielerin möglichst unsichtbar. In anderen Inszenierungen tritt die Spielerin neben der Puppe als eigenständige Figur auf. – Immer wieder faszinierend ist für sie das Spiel mit den Assoziationen des Publikums. Explizite Szenen, Intimität oder Gewalt, lassen sich nur schlecht mit Puppen zeigen. Dann gibt es den sogenannten „Puppenclinch“: Die Puppen sind sich zu nah, Material auf Material wirkt banal. Stattdessen müssen neue Ausdrucksmittel gesucht werden. Beispielsweise Schattenspiel oder „Zeigen durch Verdecken“ mit Tüchern. Wenn auf der einen Seite ein Bobbycar hinter den Vorhang fährt und auf der anderen Seite ein einsames Rad hervorrollt, kann sich jeder im Publikum vorstellen, was hinter diesem Tuch passiert ist.
Voraussetzungen und Ausbildung: Wer das Handwerk in einem staatlich geregelten Studium erlernen will, muss in der Regel die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife haben und eine Aufnahmeprüfung bestehen. Erste Erfahrungen im Bereich des Puppen- und Figurentheaters sind nicht zwingend, aber vorteilhaft. Grundsätzlich sollten Puppenspieler: innen ein hohes Maß an Fantasie, Vorstellungsvermögen sowie Kreativität im Umgang mit verschie-densten Werkstoffen mitbringen und ein gutes Körpergefühl besitzen. In Berlin und Stuttgart gibt es eine staatlich geregelte Ausbildung zum/zur Puppenspieler:in, die jeweils auf drei bis vier Jahre angelegt ist.
Dieser Artikel ist in der jungen bühne #17 erschienen.