Kritik

„Clockwork Orange“ am Kölner Theater der Keller

Alex und seine Droogs versetzen die Stadt in Angst und Schrecken. Sie überfallen beliebig wehrlose Opfer und bekriegen sich mit anderen Gangs. Die Gewalt ist für Alex Spaß und Genuss, das geraubte Geld Nebensache. Regisseurin Charlotte Sprenger hat aus dem Kultstoff eine mitreißende Inszenierung entwickelt, die durchaus ihre eigenen Wege geht und 2018  mit dem Heidelberger Theaterpreis ausgezeichnet wurde. Jetzt wurde die Inszenierung wieder am Kölner Theater der Keller aufgeführt.

Foto oben: Line Kania / Markus J. Bachmann
Beitrag von: am 20.06.2023

Ästhetik der willenlosen Hülle

Im Nebengebäude des Theaters der Keller staut sich die Luft und bei guten 30 Grad kommen Zuschauende sowie Schauspieler ins Schwitzen. Die absurde und zugleich ästhetische Darstellung von Gewalt als auch die verschwindende Grenze zwischen Bühnen- und Publikumsbereich treibt Zuschauenden der Inszenierung „Clockwork Orange“ zusätzlichen Schweißperlen auf die Stirn. Denn das Spiel bleibt nicht im dystopischen Setting von Anthony Burgess‘ Romanvorlage, sondern bricht und kann teilweise sogar übergriffig gegenüber den Zuschauenden werden, die ohne Vorwarnung von den Schauspielern überrannt und angefasst werden. Damit wird die Willkür der Gewalt im Stück, die in mehreren dargestellten Vergewaltigungen kulminiert, als physisches Erlebnis dem Publikum nahegebracht.

Zwischen Worttreue und künstlerischer Freiheit

Regisseurin Charlotte Sprenger bringt ihre eigene Version von Burgess‘ Meisterwerk auf die Bühne und verlässt sich dabei teils auf eine wortgenaue Romannähe, die sogar auf Burgess‘ erfundenen Slang zurückgreift. Teils nutzt sie aber auch eine abstrakte Ästhetik von Gewalt durch ein Lichtkonzept, welches mithilfe von Nebel und Schatten schemenhafte Körperlichkeit erzeugt. Das Bühnenbild sowie fehlende Requisiten legen den Fokus auf die fünf Schauspieler, welche als bedrohlich chorische Einheit funktionieren. Immer wieder tritt ein Schauspieler aus der Einheit des sogenannten Mobs „Droogs“ heraus und schlüpft in eine andere Rolle. Alex, gespielt von Denis Merzbach, ist der Kopf der kriminellen Bande. Ihm steht aufgrund Mordes eine 14-jährige Gefängnisstrafe bevor. Schon nach einiger Zeit guter Führung wird über Alex‘ Schicksal verhandelt, doch es scheint keine frühere Entlassung für ihn zu geben. Das Einzige, was seine Freiheit schneller wiederherstellen könnte, wäre die neuartige „Ludoviko Methode“.

Körperlichkeit einer leeren Hülle

Durch die Tortur der Umkonditionierung durch die „Ludoviko Methode“ wird Alex bei dem Gedanken an Gewalt schlecht. Obwohl er Lust an Gewalt hat, kann er diesem Verlangen nicht nachkommen. Das Resultat der Umkonditionierung ist ein willenloses Exemplar Mensch. Anthony Burgess‘ dystopische Textgrundlage fragt nach dem Recht auf freien Willen sowie nach dem Wesen des Menschen. Wenn ein Mensch zur guten Tugendhaftigkeit konditioniert und der Zugang zum wahren inneren Willen verwehrt wird, ist, was bleibt, eine leere schemenhafte Gestalt, die sich nichts weiter als den Tod wünscht. Im Großteil des Stücks wird schattenhafte Körperlichkeit und abstrakte Bewegungskunst, etwa durch eine Balletteinlage von Merzbach, die marionettenartig durch unsichtbare Fäden der ihn umringenden Schauspieler geleitet wird, akzentuiert. So auch in der intensivsten Szene des Abends, die aus einer fast nicht aushaltbaren Stille von zehn Minuten besteht, in denen Merzbach als Alex in verschiedenen beleuchteten Winkeln und Schattierungen seines Körpers einfach nur ins Publikum starrt. In diesen zehn Minuten herrschen eine Vertrautheit zwischen Schauspieler und Publikum, aber auch eine gleichzeitig paradoxe Entfremdung Alex‘ von der Menschlichkeit. Regisseurin Sprenger arbeitet mit der Theatralik der Stille und der Feinfühligkeit des Schauspiels von Merzbach die These der Notwendigkeit der Freiheit des Menschen im gesellschaftlichen System heraus.

Kontrollverlust?

Die Rolle des kontrollierenden Staates wird inhaltlich vernachlässigt. Die Inszenierung hätte dem Unterdrücker des dystopischen Szenarios, der bei Burgess und anderen Autoren wie Orwell oder Huxley stets allmächtige Kontrolle ausübt, mehr Aufmerksamkeit widmen können. Letztendlich spricht das Dasein der „Droogs“ für einen Fehler im System, zumindest aus der Perspektive des Staates. Zusätzlich fehlt die Metapher der „Clockwork Orange“, also dem Uhrwerk Orange. Das Uhrwerk Orange wird zwar durch Namedropping erwähnt, aber dass die Figur des Schriftstellers, dessen Frau Alex vergewaltigt und tötet, ein Buch mit selbigem Titel schreibt und Alex dies nach seiner Entlassung liest, wird nicht berücksichtigt. Dabei ist dies ein Schlüsselmoment der Geschichte. Generell entfernt sich Sprenger im Laufe des Stücks immer wieder vom Roman und wirft künstlerische Eigeninterpretationen des Stoffes ein. Besonders die kollektive Nacktszene kann durch das Lichtkonzept ästhetisch wirken, ist aber beim Thema Vergewaltigung zu naheliegend. Gerade weil die Regisseurin oft auf Schattenspiel und metaphorische Andeutungen setzt, wäre hier eine andere, abstraktere Verarbeitung der Szene wünschenswert gewesen. Auch der „comic relief“ ist eher Geschmackssache, da oft nicht klar ist, ob der Kontrollverlust der Szene intendiert ist, oder die Schauspieler tatsächlich aus der Rolle fallen.  Wäre dieses Mittel zur Auflockerung der Spannung etwas dosierter im ganzen Stück, wäre es wirkungsvoller, so jedoch grenzt dieser komödiantische Aspekt an Albernheit.

Dennoch ist diese Art Stoff einer dystopischen, vielleicht sogar realistischen Welt sowie die Inszenierung von Körperlichkeit ein brennender Punkt im Theater. Diese Inszenierung wurde 2018 mit dem Heidelberger Theaterpreis ausgezeichnet. Daher ist es erfreulich diese Aufführung fünf Jahre später wieder im Repertoire des Theaters im Keller vorzufinden. Denn auch wenn der ein oder andere Inszenierungsaspekt zu gewöhnlich sein mag, ist Sprengers Umsetzung von Burgess‘ Dystopie publikumstauglich und definitiv mitreißend.

 

Lucie Mohme wurde 2000 in Buchholz i. d. Nordheide geboren. Sie schloss 2023 ein Studium der Englischen Philologie und Philosophie in Göttingen ab. Derweil sammelte sie ein Jahr Erfahrung in der Pressearbeit am Deutschen Theater Göttingen, arbeitete zwei Jahre in der Redaktion des studentischen Online-Feuilleton „Litlog“ und war freie Reporterin beim StadtRadio Göttingen. Nach einem Praktikum beim Magazin Die Deutsche Bühne im Juni 2023 strebt Lucie Mohme ein weiterführendes Masterstudium in Wien an.

Foto: privat

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