Kritik

Theatrale Party: „Ich will Leben!“ am Jungen Schauspiel Düsseldorf

Das deutsch-ukrainische Gastspiel „Ich will Leben!“ bringt dem Publikum das Leben in einer verlorenen vielsprachigen, multikulturell reichen Gegend in der heutigen Ukraine näher. Im Zentrum steht die jüdische Dichterin Selma Merbaum.

Premiere: 16.05.2023

Foto oben: Steffen Rasche
Beitrag von: am 17.05.2023

Als ich das erste Mal Gedichte über die NS-Zeit las, saß ich in der Schule. Gedichte wie Paul Celans „Die Todesfuge“. Wir hörten es uns zwei Mal an. Zwei Mal, damit „wir es richtig aufnehmen konnten“. Dann drückte meine Lehrerin uns ein Arbeitsblatt in die Hand und wollte, dass wir es analysierten. In den historischen Kontext einordnen. Die sprachlichen Mittel erkennen. Die Wirkung und den Effekt beschreiben. Ich fühlte mich, als wäre das vollkommen falsch. Als wäre das nicht richtig so. Ich fragte mich, warum wir nicht darüber sprachen. Warum wir uns nur stumm und rational unsere deutschliterarischen Gedanken dazu machen sollten. Natürlich war mir bewusst, dass meine Deutschlehrerin uns, der jungen Generation, irgendwas aus dieser Zeit mitgeben musste, damit wir verstanden. Lernten. Aufarbeiteten. Erinnerten. Doch ich weiß nicht, ob wir so wirklich verstehen konnten, was Paul Celan damit auszudrücken versuchte. Vielleicht wird man es nie verstehen können. Aber eines würden wir jedenfalls mit dieser Deutsch-Analyse niemals ganz erfahren: Wie er gelebt hat, was er gedacht und gefühlt hatte und was er erlebte. Gedichte und die Jugend, das ist eh so ein schwieriges Verhältnis. Gedichte sind wie Goethe: ein bisschen zu viel und doch sehr unverständlich. Staubig und trocken, sie gehören eigentlich in die Vergangenheit.

Die Dichterin Selma Merbaum wird präsent

Doch die Inszenierung „Ich will Leben“ beweist das Gegenteil. „Ich will Leben“ ist ein Gastspiel der deutsch-ukrainischen Koproduktion der Gruppe Futur3, Teatr Lesi (Lwiw/Ukraine) und der Neuen Bühne Senftenberg, es war nun am Jungen Schauspiel Düsseldorf zu sehen. Darin performen drei Personen: die Darstellenden Lena Conrad, Andrij Krawtschuk und Mariana Sadovska, die neben der Komposition auch auf der Bühne live singt. Bei diesem Theaterabend wird das Leben der jüdischen Dichterin Selma Merbaum zweisprachig in Ukrainisch und Deutsch erzählt und gefeiert. Im Zentrum stehen ihre Gedichte, und ihre eigenen Worte führen uns in ihr Leben. Selma Merbaum wurde 1924 in Czernowitz, Tscherniwizi in ukrainisch, geboren und wächst in der kulturellen Vielfalt der Bukowina auf. 1942 wird sie deportiert in ein NS-Zwangsarbeiterlager. Ihre letzten geschriebenen Worte unter ihrem letzten Gedicht sind: „Ich habe keine Zeit gehabt, zu Ende zu schreiben.“ Sie gibt ihr Gedichtband einem Bekannten weiter. Und stirbt noch im Jahr 1942. Doch nun geht die Reise dieser Weltliteratur los. Hin und her wandert das kleine Büchlein ihrer handgeschriebenen Gedichte, erst zu ihrem Freund Leiser Fichmann, dann wieder zu ihrer Freundin Else und von da aus in weitere Hände, bis es dann doch später veröffentlicht wird. Das Stück ist eine zauberhafte Zeitreise, die allerdings sehr modern erscheint. Mit bunten Neonlichtern, Kopfhörern, Techno-Musik, Gesang und Performance nehmen wir alle Teil an dieser Party, an diesem Feiern von diesem Leben. Zu Beginn werden dem Publikum Kopfhörer verteilt. Man kann sie auf ukrainisch oder deutschsprachig einstellen. Sie leuchten sogar neonfarben: Ukrainisch in Grün, Deutsch in Rot.

Mysteriöser Party-Club

Die Bühne ist ebenso gestaltet wie ein Party-Club – wenn auch ein mysteriöser. Im Hintergrund hängen künstlerische, neonfarbene Bilder von Vögeln. Zwei Podeste stehen hier, ein DJ-Pult. So weit, so schräg. Dann geht es los, indem auf den Kopfhörern Musik eingespielt wird. Es werden einem Daten wie Radiobeiträge in seiner gewählten Sprache vorgelesen, 1912, 1920, 1924. Und dann kommt Selma. Allein ihre Geburt ist schon der erste Grund zum Feiern, zum Lachen, zum Tanzen. Geboren als Jüdin, mitten in dieser Stadt Czernowitz, die damals noch so prächtig gewesen sein muss. Da müssen so viele Sprachen nebeneinander gelebt haben –  und trotzdem hat man sich verstanden. Genau hier lebt Selma, sie ist jung und schreibt über das, was sie bewegt: gewagte, leidenschaftliche Liebesgedichte, die beinahe kitschig wirken. Ein Gedicht über den Frühling. Ihre innersten und ihre jugendlichsten Emotionen schreibt sie nieder.

Theatrale Party mit vielen Facetten

Dargestellt wird all dies nicht leise, nicht still, nicht trocken. Hier wird kein Gedicht vorgelesen. Das hier ist keine Deutschstunde. Das hier ist eine theatrale Party. Ihre Gedichte werden Musik, werden Gesang, werden ein Poetry Battle, werden Tanz und Rap. Ihre Gedichte werden neonfarbene Lichter. „ICH WILL LEBEN“, ruft Lena lebendig in das Publikum hinein, „ICH MÖCHTE LACHEN UND LASTEN HEBEN“. Und mit dieser Form beleben sie Selmas Worte und sie selbst, indem über sie gesprochen wird. War Selma verliebt? In ihren Freund Leisa? Was machte sie aus? Wer war Selma? Wir begleiten sie und ihre Gedichte bis zum Schluss. Tauchen hinein in ihre Traurigkeit, gehen ihren Weg bis zum grausamen Ende. Diese Erinnerung an ihr Leben ist zwar nicht per se fröhlich, aber blühend, lebendig und kraftvoll. Die Form, die Geschichte einer jüdischen Dichterin mit ihren eigenen Worten zu erzählen, ist sehr berührend. Es ist ein vollkommen neues Konzept von Erinnerung. In ihrer Sprache wird von ihr erzählt und das macht es einzigartig.

Gemeinsame Geschichte, etwas bunt

Dabei schafft „Ich will Leben!“ noch etwas. Die Zweisprachigkeit des Stückes erscheint einem natürlich und vor allem sinnvoll, da diese Geschichte von Selma eben historisch international geprägt ist und sich ihre Heimatstadt in der heutigen Ukraine befindet. Es erscheint, als würde man versuchen, eine gemeinsame Geschichte zu erzählen, einen Austausch einzugehen, der so noch nie gewagt wurde und nun möglich ist, auch wenn von dem Leid des Krieges in der Ukraine überschattet. Es können neue Facetten aufgezeigt werden, neue Perspektiven und Persönlichkeiten wie Selma rücken so in den Vordergrund. Ich persönlich bin mir noch unsicher, ob dieses neue Format von Erinnerung dem gerecht wird. Manchmal erschienen mir die neonfarbenen Party-Lichter doch etwas zu grell und bunt, auch wenn sie selbst an die Freude am Leben appellierte. Doch eines wurde mir von „Ich will Leben!“ ermöglicht: die Bekanntschaft mit Selma Merbaum zu schließen.

 

Matilda Ortu, die Autorin dieses Beitrags, geht auf die Hibernia Schule in Herne. Sie schreibt seit einigen Jahren regelmäßig für die junge bühne.

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