„Mein Leben ist leer, und nichts passiert, nichts Schönes, von früh bis spät“, denkt die Frau mit dem Businesskostüm und dem Rollkoffer. „Ich treffe nur Blödmänner, in einem blöden Leben.“ Hannah Moreth steht an der Seite der langgestreckten Bühne im Akademietheater, die Bühnen- und Kostümbildner Hannes Neumaier in einen hyperrealistischen Bahnsteig mit Warte- und Raucherbereich, Snack- und Fahrkartenautomat und Infotafel verwandelt hat. Da steht sie also und wartet. Auf einen Zug, aber irgendwie auch auf Anschluss in ihrem Leben, auf etwas „Interessantes“. Zumindest interessanter als all die Blödmänner, die ihr nur „auf den Arsch glotzen wie wilde Tiere“.
Der französische Dramatiker Xavier Durringer lässt in seinem Theaterstück „Ganze Tage, ganze Nächte“ neun Menschen aufeinandertreffen. Sie begegnen sich, finden sich, verlieren, verlieben und entlieben sich. Oder sie stehen und leben nebeneinanderher. In kurzen Dialogen und Monologen offenbaren sie ihre Gefühle, all die Momentaufnahmen und kleinen Charakterstudien setzen sich zusammen zum Bild einer Generation auf der Suche. Jochen Schölch, Leiter des Studiengangs Schauspiel an der Theaterakademie August Everding, hat das Stück nun mit seinen Studierenden des 3. Jahrgangs inszeniert. Es ist die große öffentliche Inszenierung, die im Studienplan verankert ist.
Warten auf die Bahn und einen Sinn im Leben
Und was bietet sich besser als Setting für ein Stück über das Warten an als ein Bahnsteig, an dem kein Zug einfährt. Ein trostloser Ort, wo es kalt ist und unwirtlich und die Gedanken kreisen – als eine Leinwand für zarte Miniaturen des Stillstands. Wo die Anzeigetafel die Verspätung „aller nachfolgenden Züge“ erst mit 20, dann mit 60, 120 und 840 Minuten angibt, um schließlich zu konstatieren: „Hier fährt nix mehr! Egal wohin!“ Die Deutschsprachige Erstaufführung des Stücks fand 1997 tatsächlich in Erlangen am Bahnhof statt, nun haben Schölch und sein Team das DB-Feeling gekonnt ins Akademietheater geholt.
Da sind der Mann und die Frau, die sich in ihrer Einsamkeit nach Nähe und einer romantischen Liebe sehnen; die beiden Typen, die ein Klavier geklaut haben und nicht nur darin wenig Sinn sehen; die Business-Reisenden, die von mehr träumen; und der Schaffner, der es sich auf dem unwirtlichen Bahnsteig häuslich einrichtet. Sie alle wollen irgendwohin, und sie alle stecken fest in Raum und Zeit. Schölch füllt den Text, der komplett ohne Regieanweisungen auskommt, mit kleinen feinen Spielideen und absurden Momenten. Da gibt die SOS-Säule ungefragt Lebensweisheiten von sich und aus dem Mülleimer taucht eine Sexpuppe auf. Wenn Ilias Ouadi diese gegen Ende neben sich auf die Wartebank setzt, ihr schützend eine Jacke umlegt und ihre Gummihand in die seine nimmt, ist das einer dieser zarten berührenden Momente an diesem Abend, die bleiben.
Momente der Hoffnung
Der Abend ist mal leise, mal laut, mal schmerzhaft, mal lustig, mal kitschig und mal wütend. Da schreit das Ensemble einmal im Chor die ganze Scheiße heraus, die in der Welt um sie herum passiert und die einem doch wirklich die Stimmung versauen kann. Dann wieder ist es das Interesse des Manns mit den Blumen, das die Schüchterne aus sich herauskommen lässt. Da steht Daria Welsch dann, aus dem Boden taucht magisch ein Mikro auf, Wind fährt ihr unter den Mantel und sie singt Céline Dions All-Time-Sehnsuchts-Titanic-Hymne „My heart will go on“.
An diesem Abend bekommt jede:r die Chance, sich zu zeigen. Florian Lange, der als der Businesstyp sehr lange braucht, um aus seinem Trott auszubrechen und im wahrsten Sinne des Wortes die Hosen runterzulassen. Frieda Lüttringhaus und Finn-Morten Tristan Schuy, die die Mechanismen einer toxischen Beziehung überzeugend ausloten. Hannes Tillian, der so sehr auf der Suche nach Liebe ist, dass es schon wieder ein klein bisschen unheimlich ist. John Vincent Ragner und Alexander Schmidt, die als Kleinkriminelle für die Komik zuständig sind und gleichzeitig den Schmerz ihrer Figuren zeigen.
Vielleicht, ja wahrscheinlich ist das Leben meist nicht wie das ganz große Kino, sondern eher so wie in dem Lied von der Zahnbürste, das Schuy einmal singt: „So lang wie eine Zahnbürste hält, war unsere Liebe in der Welt.“ Es gibt wenig Gewissheiten und nicht mal die Erde ist wirklich rund, bei genauerer Betrachtung, sondern „flach an den Polen“. Aber ganz so leer und voller Blödmänner ist sie auch wieder nicht. Zwischen all den Bitterkeiten gibt es zarte Momente der Hoffnung und des Miteinanders, zumindest an diesem Abend.

Foto: Daniela Pfeil
Anne Fritsch lebt in München und arbeitet als Kulturjournalistin und Redakteurin. Seit 2022 leitet sie die Printredaktion der jungen bühne.