Kritik

„Falk oder Der süße Gedanke vom Aufstehen und Gehen“ am Theater Magdeburg

Februar 2020

Foto oben: Nilz Böhme
Beitrag von: am 22.02.2020

Übertrieben, realistisch oder beides?

Premiere: 21. Februar 2020

Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft und alle, die schon einmal in der Schule waren, können das nicht leugnen. Wie auch, wenn die größte Veränderung, die unser deutsches Schulsystem in den letzten 300 Jahren durchgemacht hat, der Übergang vom Stände- zum Leistungssystem ist. Kein Wunder, dass die Zeugnis- bzw. Notenvergabe da einer Gerichtsverhandlung gleicht oder Schüler*innen anstatt wissensdurstig sein zu dürfen, sich mit Wissen vollsaugen müssen, bewertet werden und es wieder auskotzen. Ein stumpfer Kreislauf, der den Schüler*innen nichts außer schlaflosen Nächten, unrealistischen Vorstellungen des wirklichen Arbeitslebens und die völlige Ausrottung von Hobbys, Privatleben und jeglicher Individualität bringt. Muss sich da nicht zwangsläufig die Frage stellen: Wo ist der Sinn?

Tina Müller, Autorin preisgekrönter Jugendstücke, hat sich diese Frage gestellt. Inszeniert von Grit Lukas sehen wir in „Falk oder Der süße Gedanke vom Aufstehen und Gehen“, die Schüler*innen Isa, Henri und Sonntag, gespielt von Isabell Will, Valentin Kleinschmidt und Frederik F. Günther, die Geschichte des Jugendlichen Falk erzählen. Falk ist anders, oder um es mit den Worten seiner Eltern auszudrücken: BESONDERS. Ihm fällt das Anpassen nicht leicht. Er erkennt keinen Sinn im monotonen Auswendiglernen von Fakten und es fällt ihm dementsprechend schwer, die von ihm erforderte Leistung zu bringen. Gut, Falk ist also besonders, aber da ist er ja nicht der einzige auf der Welt. Was also macht dieses Stück besonders? Nicht nur die (besonders) phänomenalen Dialoge, nicht nur die (besonders) großartigen schauspielerischen Leistungen, nicht nur das (besonders) wandelbare und kreative Bühnenbild und nicht mal nur die (besonders) gute, schon fantastische Inszenierung von Grit Lukas. Das Besondere an „Falk oder Der süße Gedanke vom Aufstehen und Gehen“ ist, dass Falk nicht ein einziges Mal in Erscheinung tritt. Die Geschichte von Falk wird ausschließlich von Isa, Henri und Sonntag erzählt. Durch sie erfahren die Zuschauer, dass Falk gerade mit ihnen in der Mathe-Abiturprüfung sitzt und kurz davor ist aufzustehen und sein Abi sausen zu lassen. In einem turbulenten Hin und Her durch Diskussionen, Zeitsprünge und Rollenwechsel geben sie uns einen Einblick in Falks Vergangenheit. Die drei Schauspieler*innen stellen alle Personen und sogar abwechselnd Falk selbst dar. Das Springen von Rolle zu Rolle ist dabei sehr klar und intelligent gelöst. Eine beeindruckende szenische, dramaturgische und schauspielerische Leistung.

Das Bühnenbild besteht aus einem recht einfachen Gerüst, an dem Tafeln verschiedenster Form und Größe angebracht sind. Eine erhöhte Fläche aus unterschiedlich hohen, mit Tafeln versehenen Podesten macht die Bühnenlandschaft umso interessanter. Gekrönt wird die kleine Welt aus Tafeln von vier Stühlen. Die Schauspieler*innen tragen dabei Jeans und einfarbige bordeaux farbene T-Shirts. Klingt langweilig? Das ändert sich jedoch schnell, sobald die Tafeln sich in Gebäude, Gegenstände und sogar Körper verwandeln, bis Schauspieler*innen von Podest zu Podest turnen, sich am Gerüst entlanghangeln, Kreide immer wieder wie aus dem Nichts hervorzaubern und Lichtwechsel, Musikeinspielungen und Nebel das Publikum in ihren Bann ziehen. Ganz bewusst harmoniert Kostüm und Bühnenbild von Lena Hiebel mit Geschichte, Situationskomik, Atmosphäre, Kontext und Turbulenz des Stückes.

Genauso gut platziert ist der Einsatz ästhetischer Mittel: Wiederholungen, Bewegung, kleine Choreographien und Rhythmen zwingen alle Zuschauenden zur Faszination. Doch nicht nur hier herrscht ein kreatives Lauffeuer: In Form von Zeitsprüngen und Rollenwechseln springen die Schauspieler*innen nur so von Charakter zu Charakter. Dadurch wird so eine Absurdität aufgebaut, die, vermischt mit unzähligen Überspitzungen, Klischees, Wortspielen und Witzen, nicht anders zu beschreiben ist als eine kreative Explosion, die das Zuschauen zu einem einzigartigen Erlebnis macht.

Aber trotz all des Humors, das Thema, das Problem bleibt real. Zwar sind Charaktere und Szenen überspitzt, aber die grundlegenden Situationen sind in ihrer Form alltäglich, genauso wie die auf übertriebene Weise vorgetragenen Phrasen doch viel zu oft im Alltag verwendet werden. Und das Stück konfrontiert. Es beschäftigt sich umfassend und ausgiebig mit allen Facetten des deutschen Schulsystems. Gute, ausgeglichene und breitgefächerte Argumente aller Parteien werden dargestellt.

Fazit: das Stück ist lustig, humorvoll und tiefgründig. Die schauspielerische Leistung hat ein unglaubliches Niveau und begeistert in jeder Sekunde, so dass die 70 Minuten wie im Flug vergehen. Alles in allem hat Grit Lukas eine Inszenierung geschaffen, die jeden Zuschauenden, auch jenseits des Jugendalters, berühren wird. Trotzdem sollten sich Lehrer, Eltern und Schüler, wenn sie das Stück besuchen, es nicht zu persönlich nehmen. Es werden nun eben Stereotype dargestellt und jede*r Lehrer*in, Schüler*in oder jedes Elternteil ist anders. Es reicht schon nachzudenken und anzufangen sich selbst zu hinterfragen. Denn „Falk“ ist vielleicht übertrieben, aber auch realistisch. Oder vielleicht auch einfach übertrieben realistisch.