Kritik

„Panikherz“ am Berliner Ensemble

Berliner Pilotprojekt Testing, 20.03.2021

Foto oben: Sophie Vondung
Beitrag von: am 22.03.2021

Endlich wieder Theater!

Theater trotz Corona? Das ist aktuell im Rahmen des Pilotprojekts „Perspektive Kultur“ des Berliner Senats möglich. Mit einem tagesaktuellen Test darf ein kleineres Publikum wieder in eines der beiden am Projekt teilnehmenden Theater. Das hat Junge Bühne Redakteurin Sophie am Berliner Ensemble ausprobiert und berichtet hier von einem emotionalen Theater-Abend.

Die Vorbereitungen für diesen Abend beginnen schon am frühen Morgen. Da steht der Schnelltest an, der im Rahmen des Pilotprojekts kostenlos gebucht werden kann. Das improvisierte Testzentrum hat sich in einem leerstehenden Laden in Berlin Friedenau eingenistet und ist trotzdem schon von weitem zu erkennen, und zwar an der langen Menschenschlange, die sich davor aufgereiht hat. Zwei ältere Damen vor mir unterhalten sich aufgeregt, die ausgedruckte Buchungsbestätigung schon in der Hand. Darauf prangt das Logo des Berliner Ensembles neben dem des Testzentrums. Die Testerei läuft wie am Fließband. Im Minutentakt spuckt das Zentrum seine Besucher aus, die mit hochgezogenen Augenbrauen über geröteten, teils tränenden Augen, über die Schwelle ins Freie stolpern. Eine Frau reicht ihrer Tochter ein Taschentuch. Sie hat die Prozedur gerade selbst durchgemacht und weiß, was sie braucht. Nach nicht einmal fünf Minuten bin ich schon dran. Bekomme zwei Barcodes, einen klebt der Arzt nebenan auf meinen Test, mit dem anderen werde ich in 20 Minuten mein Ergebnis abrufen können. Vorsichtig schiebt er das dünne Wattestäbchen tief in meine Nase, es ziept kurz, fertig. Schon werde auch ich nach draußen entlassen. Vor der Tür treffe ich die beiden Damen, die vor mir dran waren. Sie waren zuletzt vor über einem Jahr im Theater, erzählen sie. Da machten sich schon langsam Entzugserscheinungen bemerkbar. Deshalb wollten sie beim Pilotprojekt unbedingt mitmachen. „Das Stück war mir da egal“, sagt die 59-jährige Marina. Hauptsache wieder Theater. Dafür sind sie und ihre Begleitung Claudia auch gerne bereit, vorher einen Test zu machen. „Das ist es auf jeden Fall wert!“ Bis ich zuhause bin, ist der Test schon ausgewertet. Negativ! Dem Theaterabend steht nichts mehr im Wege.

„Endlich wieder Theater!“, steht in großen Buchstaben auf einem Banner am Berliner Ensemble. Schon eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn sitzen die meisten Besucher*innen an ihrem Platz. „Bitte nehmen Sie aufeinander Rücksicht und halten Sie sich an den vorgegebenen Mindestabstand von 1,5 Metern“, quäkt eine Stimme aus den Lautsprechern. Zweifelnd schaue ich mich in dem mit 350 Besucher*innen doch recht eng besetzten Saal um. Dabei stößt die Zeitung einer hinter mir sitzenden Besucherin gegen meinen Rücken. Jeder zweite Sitz ist zwar frei, nicht aber jede zweite Reihe. Ich bekomme ein mulmiges Gefühl, nicht nur, weil ich es schon lange nicht mehr gewohnt bin, inmitten einer größeren Ansammlung von Menschen zu sitzen. Immerhin beruhigend, zu wissen, dass alle hier heute negativ getestet wurden. Auch die Maske vor meinem Gesicht, am Anfang der Pandemie noch als lästig und unangenehm empfunden, beruhigt mich heute Abend. Während ich auf den noch geschlossenen Vorhang blicke, nimmt die Vorfreude wieder Überhand. Viele der Besucher*innen haben sich zu diesem besonderen Anlass rausgeputzt. Vor mir hält eine Frau den denkwürdigen Abend fest, indem sie ihren Begleiter fotografiert. Ihr Blitz taucht den Mann im pinken Blumenhemd in kaltes Licht. Kritisch betrachtet sie das Ergebnis auf ihrem Handy. „Ne, das war zu viel Licht, da siehst du ja aus wie ein Kaninchen im Schlaglicht“, urteilt sie und versucht es gleich nochmal. Aber dann, zwei Minuten vor Acht, erstirbt das aufgeregte Geschnatter der Gäste und eine ehrfürchtige Stille breitet sich aus. Der Theaterdurst schwebt deutlich spürbar im Raum. Intendant Oliver Reese betritt die Bühne und gratuliert dem Publikum dazu, es geschafft zu haben, ein Ticket zu ergattern. Die waren innerhalb von vier Minuten ausverkauft. Er sei aufgeregt, dass es wieder losgehen kann. „Und jetzt versuchen wir uns zu erinnern, was Theater war!“ Tosender Applaus, die Vorfreude hat ihren Extrempunkt erreicht.

Es folgt „Panikherz“, eine Adaption der Autobiographie von Benjamin von Stuckrad-Barre. Laut, turbulent und mit viel Musik von der Live-Band auf der Bühne kommt sie daher. Es könnte kein passenderes Stück für diesen Wiedereinstieg geben. Die Spielenden dürfen sich auf der Bühne auch wieder nahekommen, dank regelmäßiger Tests, die das gesamte Produktionsteam zweimal die Woche machte. In den ersten Minuten kann ich kaum glauben, dass das gerade wirklich echt ist. Publikum um mich herum und Spielende auf der Bühne, die live performen? Das gibt es noch? Aber schon bald zieht mich das Stück ganz in seinen Bann. Auf der Bühne fliegen buchstäblich die Fetzen und es gibt auch viel zu lachen. Dabei ist das Publikum extrem reaktionsfreudig. Jeder Witz wird gierig aufgesaugt und mit lauten Lachern gedankt. Mehrmals gibt es Zwischenapplaus. Auf beiden Seiten des Vorhangs ist man glücklich, wieder aufeinandertreffen zu dürfen. Einmal springt Schauspieler Nico Holonics übermütig quer über die Bühne und ruft „Hach ist das schön, wieder Theater zu spielen!“ Die Band unterstützt die Spielenden mit einem Soundtrack aus Nirvana, Lindenberg, und Rammstein. Nicht nur einmal breitet sich im Verlauf dieses Abends ein glückseliges Grinsen unter meiner Maske aus.

„Es war ganz großartig, wieder im Theater zu sein“, freut sich auch der 35-jährige Fridolin, mit dem ich mich nachher auf dem Vorplatz über das Erlebnis austausche. Seine Begleitung Luisa fügt hinzu: „Ich würde das sofort wieder machen“. Das Testkonzept fanden die beiden ganz unkompliziert. „Das war offenbar durchdacht“, so Fridolin. Und sie fühlten sich dadurch auch viel sicherer. Mit Onlinetheater haben sie es auch mal versucht. „Aber das ist einfach nicht das gleiche“, meint Luisa. Fridolin stimmt ihr zu: „Die Spielfreude auf der Bühne ist auch ‘ne andere, als wenn du da ‘ne Kamera draufhälst.“ Diese Spielfreude schwappte merklich über. „Ich hab‘ auch besonders doll geklatscht, weil ich wusste, die haben so lange keinen Applaus gehabt“, erzählt Luisa. Am liebsten würde sie gleich morgen wieder ins Theater gehen. Intendant Reese berichtete vor dem Stück davon, dass die wissenschaftlichen Grundlagen längst dafürsprächen, Theaterbesuche mit Testen nicht nur als Pilotprojekt, sondern auch langfristig weiterzuführen. Fridolin würde das voll befürwortet und findet es tragisch, dass die Kultur in politischen Debatten oft hinten runterfällt. Gestartet wurde das Pilotprojekt, um die „logistische Machbarkeit von Veranstaltungen in Verbindung mit Tests“ zu prüfen, so der Berliner Senat. Als ich mich von diesem leuchtenden Abend zurück in den grauen Homeoffice-Alltag verabschiede, bleibt die Hoffnung, dass das Projekt zeigen wird: Es kann funktionieren.

 

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