Johanna Kappauf in "Zeit ohne Gefühle" an den Münchner Kammerspielen

Kritik

„Die Männer tauschten einfach ihre Mäntel“

„Zeit ohne Gefühle“ an den Münchner Kammerspielen verwebt dokumentarisch Überlebensgeschichten, Familiengedächtnis und aktuelle Debatten zu einem Theaterabend über Verantwortung und deutsche Erinnerungskultur.

Foto oben: © Julian Baumann
Beitrag von: am 31.10.2025

Verzweifelt blickt ein Mann gen Publikum, an die Decke, zu Boden. In seinem Blick liegt Wut, Machtlosigkeit, Angst. Zögerlich hebt er seinen Arm. Hinter ihm schreit der Ortsgruppenleiter „Ich will jetzt sofort den deutschen Gruß sehen“, zuvor hatte er ihm mit Dachau gedroht: „Wissen Sie, was da ist?“. Sein sich langsam bewegender Arm stockt, kommt nur bis zur Hüfte, dann langsam höher bis zur Brust. Mit der Hand auf dem Herzen hält er inne.

Es ist eine der wenigen Szenen in „Zeit Ohne Gefühle“, die ohne viele Worte auskommt. Der Text von Lena Gorelik ist das Herz von Christine Umpfenbachs Inszenierung und bildet den Auftakt des Themenschwerpunkts „Wohin jetzt?“ an den Münchner Kammerspielen, der sich mit jüdischem Leben in Deutschland von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart beschäftigt.

Wildes Rollentauschen

So auch in „Zeit Ohne Gefühle“. Dabei wechseln die Figuren wild die Darstellenden. Vier junge Menschen sind mal Nazis, mal Schüler, mal Häftlinge, mal Überlebende und mal diejenigen, die zu- oder weggesehen haben. Es zeigt die groteske Willkür, die entscheidet, wer hier Opfer, wer Täter sein könnte. „Ich mag jetzt nicht mehr diese Nazi-Sätze sprechen“ oder „Willst du mal Mordechai sein?“, heißt es dann.

Mordechai Teichner ist ein realer Mensch. Denn die dokumentarische Inszenierung (eine Spezialisierung der Regisseurin, die bereits die Münchener Attentate auf das OEZ und das Oktoberfest im Theater behandelte, beruht auf historischen Dokumenten und Interviews. Im Mittelpunkt stehen Mordechai und sein Sohn Meir Teichner. Letzterer tritt – mal selbst durch Audio- und Videoaufzeichnung, mal gespielt von Walter Hess – wie ein Kommentator des Geschehens in Erscheinung. Sein Vater überlebte das Arbeitslager Mühldorf und lebte daraufhin vorübergehend in einem sogenannten „Displaced Persons Camp“ in Feldafing am Starnberger See bei München.

Neben der Geschichte von Mordechai erzählt Lena Gorelik die Geschichte dieses Ortes. Dort gab es während des zweiten Weltkriegs eine Eliteschule für nationalsozialistische Erziehung mit dem Ziel, „wehrwillige und wehrfreudige“ Jugendliche zu erziehen. Im selben Gebäude entstand später das DP-Camp, eine Unterbringung für Überlebende des Holocaust.

Die Nazis jedoch waren mit der örtlichen Veränderung natürlich nicht auf einmal weg: „Man konnte es in ihren Gesichtern sehen, die Männer tauschten einfach ihre Mäntel – und das war es.“, zitiert die Inszenierung eine Überlebende. Durchgehend werden mal zwischen, mal in den Zeilen gegenwärtige Fragen nach der Schuld der eigenen Großeltern, dem Glück später Geburt und transgenerationaler Verantwortung verhandelt.

1933 oder 2025?

Während Darsteller:innen in SS-Uniform schreien und kindlich NS-Parolen singen, laufen im Hintergrund idyllische Videos des malerischen Feldafing: der Golfplatz, der See, heimelige Einfamilienhäuser. Ein warnender Appell, die Geschichte nicht zu vergessen. Unterstrichen wird dies auch durch Zitate von AfD-Politikern, die ein Rätselraten auslösen: 1933 oder 2025?

Und dann ist da noch der Elefant im Raum: die aktuelle Situation im Nahen Osten. Lena Gorelik, selbst jüdische Wurzeln, befasste sich bereits in dem von ihr 2024 mitherausgegebenen Band Trotzdem Sprechen mit Verständigung. Nun appelliert sie wieder an die gegenseitige Anerkennung des Leids von Israelis und Palästinensern und mahnt, die Schuld für den Antisemitismus in diesem Land nicht den emigrierten „Syrern, Afghanen, Iranern“ zuzuschreiben.

Die Inszenierung mag durch vielfache Erklärungen etwas schwerfällig anlaufen und zuweilen vor lauter Text ein wenig szenisches Material vermissen lassen, aber vielleicht ist gerade das jetzt wichtig: Zuhören. „Zeit ohne Gefühle“ ist eine Inszenierung voller tiefer Seufzer, die sicherlich viele Gefühle weckt.

 

Porträt Merle Zils
Foto: privat

Merle Zils, geboren 2001, ist in Norddeutschland aufgewachsen, studierte Medienwissenschaften im Bachelor in Hamburg und macht nun ihren Master in Kulturjournalismus an der Hochschule für Musik und Theater in München. Sie schreibt gern über Theater, Musik und Popkultur für die Junge Bühne, den schleswig-holsteinischen Zeitungsverbund und für die taz. Am liebsten beschäftigt sie sich mit Kultur, die gesellschaftliche Diskurse aufgreift und anstößt.