Kritik

Und wo bist du verwurzelt?

Im Oval Office im Schauspielhaus Bochum fand am 7. Januar die Uraufführung von „Wo steht dein Maulbeerbaum?“ von Tamó Gvenetadze statt. Es war so voll, das manche Zuschauer:innen weggeschickt werden mussten. Gvenetadzes Stück handelt vom Auswandern und noch nicht Ankommen: Kann ein georgischer Maulbeerbaum auch in deutschem Klima gut wachsen?

Foto oben: © Birgit Hupfeld
Beitrag von: am 08.01.2023

Es sind immer Hoffnungen und Wünsche, die Menschen dazu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen und woanders ihr Glück zu finden. „Ich packe in meinen Koffer…“, so beginnen drei Freund:innen ein zumindest in Deutschland sehr bekanntes Spiel und überlegen, was sie in ein neues Leben mitnehmen würden: Ein paar Pullis, alte Freundschaften, Mamaliebe und Kinderfotos.

Die drei sind Stimmen einer eigentlich einzigen Person. Sie erzählen von Erinnerungen an die Heimat und von dem, was auf dem Weg von Georgien nach Europa geblieben ist. Dabei greifen sie reale Erlebnisse der jungen Theatermacherin Tamó Gvenetadze selbst auf. Als Au-pair kam sie 2011 mit 18 Jahren von Georgien nach Deutschland. Und dann finden die drei auch noch Briefe eines Mitglieds der georgischen Band „Soft Eject“ aus den 90ern, die aus dem postsowjetischen Georgien nach Deutschland ausreiste, um dem Bürgerkrieg zu entgehen. Die Briefe handeln von Erlebnissen der Band, von Auftritten in Bochum, Club-Gigs und von dem Tag, als die Bassgitarre geklaut wurde und sie sich schließlich von ihrem Verdienst doch wieder eine neue kaufen konnten. Es ist eine kleine Erfolgsgeschichte, die davon erzählt, dass auch schwierige Zeiten vorübergehen.

Aber Gvenetadzes Stück „Wo steht dein Maulbeerbaum“ romantisiert nicht. Es handelt von Einsamkeit und dem Gefühl, unsichtbar und „anders“ zu sein. Davon, sich erzählen zu lassen, was man alles nicht kann. Und dabei muss man erst einmal verstehen, wo man herkommt, welche Rolle die Heimat in der Geschichte hat und was so etwas wie „postsowjetisch“ bedeutet. Und doch ist da auch Zuversicht und die Idee, hier in Deutschland einen Maulbeerbaum zu pflanzen. Da herrscht zwar die falsche Luftfeuchtigkeit und Temperatur, aber egal, ein Gewächshaus wird’s auch tun.

Die Maulbeerbaum-Metapher ist stark. Eine gute Verwurzelung und unterstützende Umgebung brauchen alle Menschen, um das Gefühl zu haben, am rechten Fleck zu sein. Die drei stellen sich die Frage, was „Heimat“ denn eigentlich bedeutet. Ist es ein Gefühl? Ist das da, wo man sich nicht zu erklären braucht? Der georgische Begriff für „Heimat“ meint so etwas wie „da, wo die Eltern wohnen“. „Als das Kind Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war“, wiederholen die drei Schauspieler:innen immer wieder. Vielleicht ist diese kindliche Sorglosigkeit ein Gefühl, das man vermisst, wenn man noch nicht angekommen ist.

Marius Huth, Risto Kübar, Mercy Dorcas Otieno (v. li.) © Birgit Hupfeld

Musikalisch eingebunden in das Stück sind Aufnahmen der Band „Soft Eject“ oder der „Softies“, wie sie sich auch nannten. Sie spielten gerne das Lied „Homeward Bound“ von Simon & Garfunkel, das von der Sehnsucht nach Heimat erzählt: „I wish I was homeward bound“. Jeder Brief des Bandmitglieds an seine Frau, den die drei lesen, endet mit: „The only way to live is to play, the most wonderful woman in the world is my wife and the best place to live is my home. Ich liebe und ich vermisse dich.“ Jedes Mal ist es eine ausgesprochene Sehnsucht nach fehlenden Puzzleteilen, die einen ganz machen.

Können Hoffnungen und utopische Wünsche von der Realität nur enttäuscht werden? Jeder Zukunftsvorstellung kommt das Leben dazwischen. Vielleicht trifft einen das besonders hart, wenn man noch dazu weit weg von dem ist, was man kennt und wo man ein Leben gelebt hat. Und wie soll man eine eigene Identität manifestieren, wenn man sich nicht gleichbehandelt fühlt? „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, so steht es im Grundgesetz in Deutschland. Verzweifelt meint eine der Freund:innen, dass das Grundgesetz aber eine VIP-Party ist, auf die nicht alle eingeladen sind. Wie soll man sich dem verpflichten, wenn man sich davon nicht beschützt fühlt? Dafür müsse man sich auch ordentlich anstrengen, meint ein anderer. Was Emigrieren aber ganz bestimmt nicht ist: einfach. „Exil ist harte Arbeit“, sprayen die drei Freund:innen auf die Plastikwand.

Einer der drei baut aus Umzugskisten einen großen wackeligen Turm und trägt dabei eine Klappleiter über der Schulter. Alles Materielle und alle Zukunftswünsche können komplett in sich zusammenfallen, so wie es der Kistenturm gleich darauf tut, weil der Schauspieler ihn nicht halten kann. Was nie so leicht kaputt geht ist das, was Gvenetadze unheimlich feinfühlig in ihrem Stück thematisiert und was jedem Menschen Stärke gibt: Freundschaft und Liebe. Als drei Stimmen einer einzigen Person streiten die drei, werfen sich Dinge vor und sind dann doch immer füreinander da. „Wo steht dein Maulbeerbaum?“ behandelt diesen inneren und äußeren Gefühlskampf voller Zorn, Ängsten und auch Einsamkeit sehr plastisch. Und dabei steht Gvenetadzes eigene Geschichte nur stellvertretend für so viele andere, die auch noch längst nicht beendet sind.

Regie: Tamó Gvenetadze

Darsteller:innen: Marius Huth, Risto Kübar, Mercy Dorcas Otieno

Bühne: Anna Wörl

Kostüme: Lasha Iashvili

Musik: Beka Butschukuri

Dramaturgie: Vasco Boenisch