Es ist ein traumhafter Herbsttag in Baden-Baden. Orange-gelbe Blätter hängen von den Bäumen, die Sonne glitzert auf Häuserfassaden mit kleinen verschnörkelten Balkonen und (kaum zu glauben, aber wahr) eine Kutsche mit zwei weißen Schimmeln reitet vorbei. Kurzum: es ist wie im Märchen.
Völlig ironisch angesichts dessen, was einen kurz darauf im Tik am Theater Baden-Baden mit „Modern Mermates“ von Simone Saftig erwartet. Denn hier wehren sich drei Meeresbewohnende, bestehend aus den zwei Mermates (kein Rechtschreibfehler, sondern eine Selbstbezeichnung!) Thetis und Amphinome und Delphin Dirk, vehement gegen menschengemachte Idealvorstellungen à la Arielle und Flipper. Und nicht nur das. Die Inszenierung von Merle Zurawski zeigt, wie auch die Umwelt des Figurentrios unter dem Einfluss der Menschen leidet: Verschmutzung, Überfischung, Lärmbelästigung. Mit ihrer Parole: „Die wollen Me(eh)r, immer, immer mehr. Wir wollen Me(eh)r, unser Meer zurück!“, sagen sie den Menschen an Land gemeinsam den Kampf an.
Multifunktionale Plüsch-Tentakel
Constanze Weinig agiert hier in der Rolle der kompromisslosen und radikalen Thetis, Carl Herten gibt den zaghafteren und mitfühlenden, vielleicht auch etwas naiveren Gegenpart Amphi. Besonders beeindruckend ist Kinga Ötvös in der Rolle des abgehalfterten Delfins Dirk, der, wie er selbst sagt, seinen „Glow“ verloren hat und seine depressiven Verstimmungen durch seine Sucht nach Kugelfischen zu betäuben versucht. Der Begriff Defhin-Therapie erhält hier eine völlig neue Bedeutung.
Ötvös fesselt darüber hinaus als Musik- und Klangperformance Künstler:in: Neben klassischem Wellenrauschen wird das Publikum in elektronisch selbsterzeugten Tiefseeklängen gewogen. Die herabhängenden und zugleich beweglichen lilafarbenen Plüsch-Tentakel von Bühnenbildnerin Kathrin Frech erweisen sich als Multifunktionswaffe: Korallenriff, Nymphen-Felsen, Trennlinie zwischen Wasser und Land.
Inhaltliche Dringlichkeit
Das Gerichtsverfahren gegen die ignorante örtliche Tourismus- und Hotellerie-Branche scheitert, der frontale Sirenenangriff gegen das Kreuzfahrtschiff muss abgebrochen werden. Jetzt können nur noch die Götter helfen: Meeresgöttin Sephna ruft (auch ohne jeglichen mythologischen Bezug) alle Lebewesen, sowohl an Land als auch im Meer, zur Einheit und gegenseitiger Rücksicht auf Erden auf.
Die Dringlichkeit einer Kritik am Verhalten des Menschen gegenüber seiner Umwelt wird insbesondere durch die beiden ignoranten und dekadenten Kreuzfahrtgäste Harry und Laurie aus dem Off verstärkt. Allerdings sind diese beiden Figuren so überzeichnet (Laurie: „Harry, reich mir bitte meinen Caipirinha!“ Harry: „Geht nicht Laurie, ich kann mich nicht bewegen.“ Laurie: „Du kannst dich nicht bewegen, Harry?“ Harry: „Nein Laurie, er steht zu weit weg von meiner Liege, Laurie.“), dass sich das Publikum weder mit ihnen identifizieren kann, noch will. So bleibt die Frage, wie erfolgreich der moralische Zeigefinger auf diese Weise tatsächlich ist. Frei nach dem Motto: Das Problem sind die anderen. Nicht ich.

Henrike Wagner. Foto: Lilly Timme
Henrike Wagner studierte zunächst Musikwissenschaft und Philosophie an der Universität Heidelberg bis sie ihr Studium an der Hochschule für Musik im Bereich Musikjournalismus fortsetzte und dieses zu Beginn des Jahres 2024 abschloss. Kurz danach wurde sie Teil der Orchesterdirektion des Badischen Staatstheaters Karlsruhe.