„Herzlich Willkommen im Abgrund, im Gewitter.“ Mit diesen Worten eröffnet Matthias Pees, Intendant der Berliner Festspiele, das diesjährige Theatertreffen, während draußen vor dem Festspielhaus das erste Sommergewitter das Jahres aus den Wolken bricht. Drinnen im Saal ist es zwar trocken, die schwüle Luft hängt aber auch hier über dem Rang. „In der Hitze meine Stimme auf den Gassen der Gärten“, klingt es kurz nach Abdunkeln des Saals aus den Bühnenmikros – und kein Text hätte die gewittrig-stürmische Stimmung dieses Abends treffender einfangen können als Friedrich Hölderlins „Vom Abgrund nämlich“.
Weniger einem Abgrund als einem Abgang blickt Claudia Roth entgegen, die sich mit flammendem Nachdruck von ihrer Amtszeit verabschiedet. Nicht aber, ohne ein Plädoyer für die Kultur als „Sound unserer Demokratie“ einzulegen – „auf dass das Theater weiterhin leuchtet!“ Nachdem Theatertreffen-Leiterin Nora-Hertlein-Hull dann die erste Inszenierung der Festspiele ankündigt, wird es allerdings erstmal dunkel. Denn in Katie Mitchells „Bernarda Albas Haus“ dringt wenig Tageslicht durch die zugezogenen Gardinen. Als der Vorhang hochfährt und den Blick auf ein kinematografisches Bühnenbild von Alex Eales freigibt, hallen die von Matthias Pees anfangs gesprochenen Worte noch nach: „It’s gonna be a pretty dark evening“.
Hinter den Fenstern lauern Augen
Im fahlen Schein der Lampen bewegen sie sich langsam und bedacht – als müssten sie mit ihren eigenen Schatten identisch werden, als wollten sie sich den beobachtenden Blicken entziehen, die sie überall vermuten. Sie, das sind die fünf Töchter der frisch verwitweten Bernarda Alba (Julia Wieninger), ihre traumatisierte Mutter (Bettina Stucky) und zwei Hausangestellte. Was sie verbindet, sind nicht die von Bernarda diktatorisch befohlenen Familienbande, sondern die Angst davor, bei einem Ausbruch aus dem festen Griff der Mutter ertappt zu werden. Denn im Haus von Bernarda Alba haben die Wände Ohren und vor den Fenstern lauern Augen.
Regisseurin Katie Mitchell siedelt Federico García Lorcas Klassiker in einer neuen Fassung von Alice Birch in einem zeitlos-schwebenden Raum an, in dem spanisch-konservative Dorftradition auf blau leuchtende Smartphone-Displays trifft. Bühnenbildnerisch umgesetzt als Querschnitt eines zweistöckigen Hauses, abgetrennt von der Außenwelt mit einem Gittertor, bildet sich hier auf engstem Raum ein gesellschaftliches System ab, das sich mit keinem Zaun aussperren lässt: das internalisierte Patriarchat.
Zwischen näher rückenden Wänden
„Seit ich ein Kind war, habe ich Angst vor Männern.“ „Es ist gefährlich da draußen.“ Sätze wie diese werfen sich die Schwestern in parallel gesprochenen Dialogen zu, deren Gesprächsfäden sich zu einem dichten Wortteppich verweben. Für Warnungen ist es allerdings zu spät, denn die Gewalt bewohnt längst jedes der Zimmer, in denen Bernarda ihre Töchter isoliert – und hat von der Familie selbst Besitz ergriffen: „Wenn du weinen willst, kriech unter dein Bett und steck dir die Faust in den Mund.“ So schroff und gewaltbereit wie die Mutter die Familie zu bezwingen versucht, so abgebrüht und voller Misstrauen begegnen sich die Schwestern untereinander. Spätestens als ans Licht kommt, dass Adele, die Jüngste, durch die Zaunstäbe hindurch eine Affäre mit dem Verlobten ihrer Ältesten Schwester führt, türmt sich die stickige Luft im Landhaus zu einer Gewitterwolke auf. „Hörst du diese Stille? In jedem Zimmer wartet ein Sturm.“ Immer erdrückender braut sich die Missgunst der Frauen zwischen den näher rückenden Wänden zusammen – bis das Unwetter ausbricht.
Der Abend macht einmal mehr deutlich: Es braucht keine Männer auf der Bühne, um zu zeigen, wie patriarchale Machtstrukturen durch die Ritzen jeder Mauer dringen. Den stärksten, weil widersprüchlichsten Schmerz, verursacht Mitchells Inszenierung aber wohl deshalb, weil es den Frauen nicht gelingt, sich untereinander zu solidarisieren – sich zu bestärken, anstatt sich auszustechen. Aber, um mit Claudia Roths anfänglich gesprochenen Worten zu sprechen: „Ambivalenz ist der stärkste Ausdruck von Wahrheit.“
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© privat
Ella Rendtorff, geboren 2000 in München, hat Literatur- und Politikwissenschaften in Berlin studiert. Aktuell macht sie ihren Master in Kulturjournalismus an der Hochschule für Musik und Theater München und schreibt nebenher für die Süddeutsche Zeitung und Theater heute. Am liebsten ist sie dort, wo es eine Bühne und gute Gespräche gibt. Die letzten drei Jahre hat sie an der Vagantenbühne Berlin nicht nur viel Zeit verbracht, sondern auch einen Theater-Podcast produziert.