Kritik

Das einende menschliche Band

„Iphigenie“
Theater an der Parkaue Berlin
Februar 2020

Foto oben: Magdalena Gräslund
Beitrag von: am 20.02.2020

Premiere: 19. Feburar 2020

Angesichts der Tatsache, dass lediglich 23 Prozent der Google-Nutzer die Lektüre Goethes Iphigenie auf Tauris gefallen hat, stellt sich die Frage, wieso wir immer noch Iphigenie inszenieren sollten. Was können wir noch von der makellosen Güte der entführten Priesterin lernen, die so schmerzlich an das Menschliche appelliert? Was ist überhaupt menschlich? Wie lässt sich der Allgemeinplatz des Menschlichen noch heute in einer pluralistischen Gesellschaft behaupten? Und allen voran: Wie können wir überhaupt etwas universal Menschliches jenseits von eurozentristischen Vorstellungen feststellen und uns so von unserer Vergangenheit lösen? Diesen Fragen versucht die Inszenierung unter Regie von Nora Bussenius am Theater an der Parkaue Berlin nachzugehen.

Auf einem sich drehenden Kubus aus Holz und Glas sitzt Iphigenie (Klara Pfeiffer) und wartet. Eine Leinwand, auf die ein Bild vom Nachthimmel des Weltalls projiziert wird, trennt die Bühne vom Zuschauerraum, der sich allmählich füllt. Vor der Leinwand liegen Berge von Müll, ein stummer Vorwurf über die Verschmutzung des Mittelmeers und die Verantwortungslosigkeit des einzelnen Menschen.  Links ein barockes Tischchen, auf dem die Büste des Dichters und Denkers thront. Dass Goethe das Geschehen des Abends im Auge behalten wird, klärt bereits in den ersten Sekunden über das hierarchische Verhältnis von Text und Spiel auf.

Hinter dem Vorhang wechselt Iphigenie, von Scheinwerfern beleuchtet, unruhig die Körperhaltung. Als das Licht im Saal ausgeht, verschwindet sie schnell im Glaskasten, der nun vom kalten Licht der Neon-Röhren und weißem Rauch erfüllt ist. Die Spiegelung des Lichts zieht sich gleich einem Spiegelkabinett bis ins Unendliche. Iphigenie ist auf ihrer hölzern-gläsernen Insel gefangen. Ebenso gefangen bleibt die Inszenierung im Werk Goethes. Die Handlung wird in fünf Akten wiedergegeben, ohne sich groß vom Original loslösen zu wollen: Iphigenie wird, von der Göttin Diane vor ihrem Tod gerettet, auf die Insel Tauris gebracht. Nun bekommt sie von Arkas (Hanni Lorenz), dem Berater des Königs Thoas (Florian Pabst) zu hören, dass der Herrscher von Tauris sie heiraten will. Auf Iphigenies Absage hin zwingt Thoas sie, ihrer priesterlichen Aufgabe, der Opferung von zwei fremden Gefangenen, wieder nachzugehen. Es stellt sich heraus, dass es sich hierbei um Iphigenies Bruder Orest (Friedrich Richter) und seinen Freund Pylades (Filip Grujic) handelt, der ihr vom Mord an ihrem Vater und ihrer Mutter berichtet. Von der Botschaft mitgenommen entfacht das Wiedertreffen mit Orest jedoch neuen Mut in Iphigenie. Sie will von Tauris zu ihrer Familie zurückkehren und den Familenbann brechen. Bis auf kurze Interventionen, in denen Klara Pfeiffer aus dem kleinen gelben Reclam-Heft vorliest, oder Orest, der wie ein Showmaster im Müll herumspielt, bleibt es jedoch nur bei einem Versuch, Goethes Texte besonders aussagekräftig zu bebildern.

Dabei sind gerade die körperlichen Szenen, wie der erste Auftritt Orests und Pylades, in der das gesprochene Wort in den Hintergrund tritt, die wirkungsmächtigsten. Auf hohen Holzgerüsten hereingeschoben, bewegen sich ihre nackten Körper gleich antiken Skulpturen voller Schmerz, mal fallen sie krachend auf das Gerüst, mal strecken sie sich. Dann schließlich liegen sie einander in den Armen. Ihre Körper beschreiben dringlich die Qual und die Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Leider wird diese hochemotionale Körperlichkeit meist von der streng rationalen Wiedergabe des Textes gebremst.

So sehr die Einheit der fünf Akte Goethes ernstgenommen wird, so uneinheitlich ist das Spiel der Schauspielerinnen und Schauspieler: Arkas wird von Hanni Lorenz als Roboter mit aufgesetztem Lächeln und zackigen Bewegungen verkörpert, der sich hin und wieder aufhängt. Während Friedrich Richter als Orest zwar wie die anderen Schauspielerinnen und Schauspieler dem strengen Versmaß große Beachtung schenkt, spricht er weniger schwermütig, seine Bewegungen sind impulsiver. Klara Pfeiffer muss sich hingegen krampfhaft an der klagenden und teilweise geschwollenen Sprache Goethes abarbeiten. Dann kurz: ein alltagssprachlicher Einschub, ein Pylades, der Iphigenie „Iphi“ nennt.

Ebenso wenig lässt sich ein einheitlicher Stil im Bühnenbild erkennen: Der minimalistische Glaskasten steht im Widerspruch zur Hülle und Fülle an Requisiten, die manches Mal sehr plakativ die Handlung bebildern. So wird beispielweise Pylades in eine Zwangsjacke gesteckt oder der gläserne Kubus in Absperrband gewickelt und mit weißer Farbe beschmiert, nachdem Iphigenie ihre Flucht beschlossen hat. Und auch die Flut an atonalen Soundinstallationen, die sich mit Liedern wie „What a wonderful world“ abwechseln, scheint nahezu willkürlich zusammengewürfelt. Vielleicht entfernt sich Regisseurin Nora Bussenius mit diesen Entscheidungen am weitesten vom Ideal der Weimarer Klassik: Dem schlichten und doch imposant monumentalen antiken Bühnenbild, wie es Goethe vorgesehen hatte, wird hier eine Materialschlacht aus Plastik, Glas, Holz und viel Gold entgegengesetzt.

Die Vorstellung Goethes, ein universales Kunstwerk zu schaffen, das sich jeglichem geschichtlichen und geografischen Kontext entzieht, klebt noch immer an der textlastigen und statischen Inszenierung. Dabei ist es doch allerhöchste Zeit, die Jahrhunderte alte Sichtweise vom Europa als Mittelpunkt der Welt und Ursprung aller Kultur aufzulösen und den Inszenierungsformen anderer Kulturen Einlass zu gebieten. Dieser Abend verbleibt hingegen im Schatten europäischer Dramatik. Und doch, trotz konventioneller Entscheidungen öffnet sich so mancher Assoziationsraum. Iphigenie, die am Ende des Abends allein auf der Bühne steht und versucht, den sie umgebenden Müll in schwarze Plastiktüten einzusammeln, erinnert mit einem Mal an den Plogging-Trend: Eine aus Schweden stammende Sportart, die Joggen mit dem Einsammeln vom Müll vereint. So ist auch vielleicht dies die zeitloseste aller Vorstellungen der Weimarer Klassik, die universalen Charakter besitzt: dass jede und jeder Einzelne für die eigene Umwelt und das gute Miteinander verantwortlich ist. Dafür arbeiten muss. Und im Gegenzug etwas bekommt. Der verantwortungsvolle Mensch wird Teil dieses menschlichen Bandes, das sich von Vergangenheit über die Gegenwart bis hin in die Zukunft zieht. In einer Zeit, in der wir oftmals vor der Frage stehen, wo wir bei all den Kriegen und Umweltkrisen anfangen sollen, können wir uns diesen Appell sehr wohl zu Herzen nehmen.

 

Alle Zeichnungen: Magadalena Gräslund

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