Kritik

„Anti War Women“ an den Münchner Kammerspielen

Mit „Anti War Women“ erteilen Regisseurin Jessica Glause und Ensemble dem Publikum der Münchner Kammerspiele eine längst überfällige Geschichtslektion.

Foto oben: Julian Baumann
Beitrag von: am 01.04.2023

Noch bevor sich der Vorhang gelüftet hat, wird der Abend bereits politisch: Ein Mitarbeiter der Kammerspiele betritt die Bühne und verkündet, dass man sich trotz anhaltender Bestreikung dafür entschieden hat, die heutige Premiere von „Anti War Women“ stattfinden zu lassen – und das, obwohl einige der daran beteiligten Theaterschaffenden gerade mal 2000 Euro netto im Monat verdienen. Das Publikum reagiert mit Applaus. Spätestens jetzt sind alle auf die politische Dimension dessen, was folgen wird, eingestimmt.

„Anti War Women“ beginnt mit einem Paukenschlag. Zu kraftvollen Bässen lüftet sich der Vorhang und gibt die Sicht auf das Bühnenbild frei: eine raumfüllende, zum Publikum hin abschüssige Scheibe, aus deren Loch in der Mitte nun Rauch aufsteigt. Sechs Gestalten erscheinen, die sich mit den Worten „München 1914!“ als eine Delegation von Zeitreisenden zu erkennen geben. Sie entstammen einer Zeit, in der die deutsche und internationale Frauenbewegung gerade an Fahrt aufnimmt – und einen schweren Rückschlag erlebt, als 1914 in Europa der Erste Weltkrieg ausbricht. Die Münchnerinnen Anita Augsburg und Lida Heymann wollen weder den Krieg noch die anhaltende Unterdrückung des weiblichen Geschlechts akzeptieren: Ein Jahr nach Kriegsbeginn rufen sie gemeinsam mit der Niederländerin Aletta Jacobs in Den Haag den Internationalen Frauenfriedenskongress aus. Über 1500 Frauen aus 16 Nationen folgen ihrem Ruf.

Schmerzhaftes Empowerment

Noch nie davon gehört? Keine Sorge, da seid ihr sicher nicht die einzigen. Schließlich finden Frauen in der modernen Geschichtsschreibung immer noch kaum statt – zu Unrecht, wie Jessica Glause und Ensemble an diesem Abend beweisen. Mittels Auszügen aus originalen Reden und Resolutionen werden die Geschehnisse des Frauenfriedenskongresses noch einmal lebendig. Als Augsburg und Co. diskutiert das sechsköpfige Ensemble über Abrüstung, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Geschlechtergerechtigkeit – und formulieren dabei Positionen, die mitunter heute noch als progressiv gelten. Unterbrochen werden diese mitunter anspruchsvollen Diskussionen von eindrücklichen Musikeinlagen: Mal performt das Ensemble einen Schlager aus den 80ern, mal eine Punknummer über Pazifismus. So beginnt eine Reise von Resolution zu Resolution.

Ensemble in "Anti War Women"; Foto: Julian Baumann

Es ist empowerend und schmerzhaft zugleich, die Geschichte des Frauenfriedenkongresses auf der Bühne mitzuerleben. Empowerend, weil es beweist, dass Frauen sehr wohl Einfluss auf die Weltgeschichte genommen haben. Schmerzhaft, weil es dem Publikum einmal mehr das Versagen des Geschichtsunterrichts hierzulande vor Augen führt. Es ist einer der stärksten Momente des Abends, als auf der Leinwand am hinteren Ende der Bühne alle Namen der über 1500 Teilnehmerinnen des Kongresses zu lesen sind. Das berührt, ermutigt. Diese Frauen haben es verdient, dass wir auch heute noch über sie sprechen. Denn ihre Geschichte ist im Jahr 2023 aktueller denn je. Und obwohl der Bezug zum aktuellen Weltgeschehen jedem und jeder Zuschauer:in klar sein sollte, scheut sich Glause nicht davor, das Publikum mit der Nase darauf zu stoßen. Die gleich zu Beginn ausgerufenen Parolen enthalten neben historischen Forderungen beispielsweise auch zeitgenössische Slogans wie „Wir sind hier, wir sind queer!“ – als könnte das Publikum die Transferleistung nicht selbst erbringen. Zum Glück hält sich „Anti War Women“ jedoch größtenteils an seine historische Vorlage, die für sich genommen schon beeindruckend genug ist.

Ein Balanceakt

Glauses Inszenierung trägt bewusst dick auf: Die ausgefallenen Kostüme des Ensembles, das schwebende Schlagzeug, auf dem Jelena Kuljić mit leuchtenden Drumsticks spielt, die riesige, aufblasbare Klitoris, die Joyce Sanhá als Gynäkologin Aletta Jacobs auf die Bühne schleppt – all das führt zu einer gewissen Entschärfung der behandelten Thematik. Tatsächlich tut „Anti War Women“ nur selten wirklich weh – und das, obwohl die Schrecken des Ersten Weltkriegs mitunter sehr graphisch beschrieben werden. Selbst Maren Soltys Monolog über den Einsatz von Vergewaltigung als Kriegswaffe entfaltet, eingebettet in poppige Musikeinlagen und die bunte Ästhetik der Kostüme und des Bühnenbilds, nicht seine volle Schlagkraft. Schmerzhaft wird es hingegen an Stellen, an denen es wahrscheinlich von der Regisseurin nicht beabsichtigt war. Etwas befremdlich ist beispielsweise, dass auf die Schilderung von Massenvergewaltigungen eine pseudo-coole Rap-Einlage folgt. Und wenn die Darsteller:innen davon singen, dass beim Einsatz von Nuklearwaffen „dein Arsch in den Himmel fliegt“, während im Hintergrund historische Aufnahmen von verstümmelten Kriegsveteranen über die Leinwand flimmern, grenzt das schon fast an Geschmacklosigkeit.

Nichtsdestotrotz gelingt Glause mit „Anti War Women“ ein nicht zu unterschätzender Balanceakt. Auf der einen Seite ist die Inszenierung eine längst überfällige Hommage an frühen feministischen Anti-Kriegs-Aktivismus. Auf der anderen Seite bleiben auch die Schwächen des Frauenfriedenskongresses nicht unerwähnt: So werden dem Publikum nicht nur die praktischen Grenzen des Pazifismus aufgezeigt, sondern auch die Ignoranz der überwiegend weißen Kongressteilnehmerinnen gegenüber der Unterdrückung von Frauen of Color. Nach ereignisreichen und nie langatmigen 80 Minuten verabschieden sich die Besucher:innen aus der Vergangenheit wieder – und geben den dem Publikum Gelegenheit für den wohlverdienten Applaus.

Mehr Infos zur Inszenierung und weiteren Aufführungsterminen findet ihr hier.

 

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