„Das Wichtigste ist, dass ihr versteht, dass ein Beweis eine Herleitung braucht. Schritt für Schritt.“ Mit diesem mathematischen Leitsatz beginnt Carla Nowak (Rahel Weiss) auf der Bühne ihren Unterricht – und formuliert damit ungewollt das Dilemma, in das sie sich selbst verstricken wird. „Das Lehrerzimmer“ nach dem preisgekrönten und Oscar-nominierten Film von İlker Çatak und Johannes Duncker zeigt, wie unsere Gesellschaft Urteile fällt – ohne eindeutige Beweise.
An einer Schule häufen sich Diebstähle, die Schulleitung verdächtigt unter rassistischen Vorzeichen einen Schüler. Die idealistische Lehrerin Carla Nowak will Fairness herstellen und filmt heimlich. Doch statt Klarheit bringt die Aufzeichnung nur neue Unsicherheiten: Eine rosa Bluse wird zum vermeintlichen Beweis. Die darauffolgende Suspendierung der Sekretärin Frau Kuhn löst eine Eskalationsspirale aus.
Eskalationsdynamik
Auf der Bühne entfaltet sich die Handlung als atmosphärisches Drama: Adrian Figueroa inszeniert die Schule als gläsernes Raumgeflecht: Klassenzimmer, Lehrerzimmer, Sekretariat – die Räume rotieren vor den Augen des Publikums, während die Darsteller:innen fließend durch Zeit und Raum wandeln (Bühne: Irina Schicketanz). Die Inszenierung bleibt dabei eng an der Filmvorlage: Perspektiven verschieben sich rasch und die Funktion der Bühne wirkt stellenweise wie eine lebendige Kamera. Die permanente Bewegung spiegelt die Eskalationsdynamik der Geschichte.
Kuhns Sohn Oskar, Schüler in Nowaks Klasse, wird gemobbt – andere solidarisieren sich mit ihm und wenden sich gegen die Lehrerin. Die Klasse formt sich durch choreografische Bewegungen und Klangelemente zu einer Gemeinschaft: 15 Schüler:innen stampfen, klatschen und bewegen sich kraftvoll als kollektiver Körper.
Das Klassenzimmer. Foto: Natalie Grebe
Besonders eindrücklich wird die Inszenierung, als der Konflikt zwischen Oskar und Nowak eskaliert und die Lehrerin schließlich zusammenbricht. Hier emanzipiert sich das Theaterstück vom Film und zeigt, was nur die Bühne kann: Lichter flackern, die Musik ist laut, das Echo von Nowaks Stimme hallt durch die Räume, Oskar ist wütend und auf der Bühne tragen auf einmal alle rosa Blusen. Einbildung? Realität? Das Publikum erlebt Nowaks psychische Belastung unmittelbar – ihre zunehmende Verlorenheit erreicht ihren Höhepunkt.
Hinterfragen der gesellschaftlichen Kommunikationskultur
Rahel Weiss verkörpert die überfürsorgliche Lehrerin überzeugend – eine Frau, die zwischen Erziehen und Prüfen, zwischen Nähe und Autorität balanciert und trotz oder gerade durch ihre guten Intentionen immer tiefer in moralische Widersprüche gerät. Das eigentliche Herz der Inszenierung ist jedoch das junge Ensemble: Mit beeindruckender Professionalität, klarer Präsenz und großer Ernsthaftigkeit tragen die Kinder und Jugendlichen das Stück – eine Bühnenleistung, die in diesem Alter und in dieser Gruppengröße selten zu sehen ist.
Das Theaterstück stellt grundlegende moralische Fragen und zeigt dabei, wie die Grenzen zwischen „Tätern“ und „Opfern“ verschwimmen. „Das Lehrerzimmer“ hinterfragt damit unsere gesellschaftliche Kommunikationskultur: Wem vertrauen wir und wie schnell fällen wir unser Urteil?

Elisa Freede. Foto: Anna Kaiser
Elisa Freede studiert Musikjournalismus in Karlsruhe. Sie arbeitet außerdem als freie Kulturjournalistin. Neben ihrer Tätigkeit für die junge bühne erstellt sie Beiträge für SR kultur, moderiert für den Jungen Kulturkanal und produziert Videocontent für manimedia.