Regisseurin Malin Kraus über ihr Konzept:
Montag früh, Berliner Hauptbahnhof. Der Anschlusszug, der uns rechtzeitig zu Probenbeginn über die polnische Grenze nach Lwiw bringen sollte, ist weg. Ein erstes Symbol für die Koordinationskunst, die diese deutsch-ukrainische Koproduktion erfordert. Doch wie so oft in diesem Prozess: Am Ende fügt sich alles. Die Proben beginnen rechtzeitig.
Unsere Kooperation mit dem Lesi Theater macht, neben anderen Förderern, diese Produktion, mein Regiedebüt, überhaupt erst möglich. Nach dem ersten Kennenlernen im Juni 2025 hat mein Team mit dem Lesi nun innerhalb von knapp vier Monaten das Konzept des dokumentarischen Stücks „Die Häuslichen“ ausgearbeitet.
Unermüdlich gehen alle Abteilungen die deutsch-ukrainischen Sprachdifferenzen wie die Umsetzung des Bühnenbilds von Anne Schartmann an – Herzstück des Projektes: Ein Haus, das Zuhause und Albtraum der vier Figuren ist, gespielt von Vira Hanchar, Natalia Mazur, Yana Kolodichuk, Leon Brugger und Luise Deborah Daberkow. Sie repräsentieren mit ihren Charakteren Geschichten, die mein journalistisches Team in und um Lwiw bereits im September gesammelt hat und ich zu einem Text zusammensetzen durfte. Es sind Geschichten von Frauen aus ihrem Alltag: Sorgen, Routinen, Zukunftsvorstellungen. Wir haben gefragt:
Welche Rolle spielt Feminismus in deinem Alltag? Bezeichnest du dich als Feministin? Wo beginnt eine feministische Utopie?
Herausgekommen ist ein Theater sozialer Wirklichkeit, das Feminismus nicht nur als Konzept, sondern als gelebte Bedingung begreift. Die lange Geschichte des Feminismus in der Ukraine, die wir als Schattentheater wiedergeben, ist elementarer Bestandteil jeden Versuchs der Annäherung an das Verständnis von Gleichberechtigung und seiner politischen Lage hier.
Wie präsent feministische Verhandlungen gerade jetzt sind, lernen wir nicht nur in Interviews mit queeren Menschen, Frauen, die auf die Heimkehr ihrer Ehemänner warten, Gesprächen mit den Schauspielerinnen, sondern vor allem durch spontane Begegnungen, wie auf meiner Recherche nach Musik: Viktoria, die den Künstlerinnnennamen Donbasgrl trägt, macht feministischen Techno in Berlin. Sie setzt sich in ihrer Musik mit ihrer ultra-konservativen Vergangenheit in der Ukraine und feministischer Praxis auseinander – eine Entwicklung, die wir häufiger hören.
Zum Beginn der Bauprobe habe ich die Mitarbeiter:innen zur persönlichen Beteiligung am Stück eingeladen, ohne große Hoffnung auf Anklang. Jetzt, eine Woche vor unserer Premiere, hängen Hochzeitsfotos von Familienmitgliedern aus dem ganzen Theater im Bühnenbild. Unsere Arbeit am Lesi wäre nicht ohne diese Geschichten, die Arbeit und das Vertrauen möglich.
Die Idee ist, so kollektiv wie möglich zu arbeiten, so viele Geschichten wie möglich zu erzählen, und dabei sind das längst nicht alle. Wir thematisieren Machtmissbrauch, Sexismus, Reproduktionsdruck – alles anhand des Motivs der Ehe. Was provokativ wirken mag, ist die These des kleinsten gemeinsamen Nenners der Lebensrealitäten, die wir recherchiert haben: die Erwartung, eines Tages eine wunderschöne Braut zu werden.
Kritisch mit diesem Bild umzugehen, nicht abzulehnen, aber es zu hinterfragen, das ist das Ziel der Inszenierung, die aus vier Bräuten unzählige Geschichten macht. Während ich diesen Text schreibe, laufen Licht-, Video- und Technikprobe parallel. Alles, was wir hier machen, gleicht einer Parallelität, die der Sprachen, Lebensrealitäten und Erwartungen, die anlässlich unserer Premiere zum ersten Mal öffentlich aufeinandertreffen.
Aus „Die Häuslichen“. Foto: Daria Svertilova
Die ukrainische Perspektive: Schauspielerin Vira Hanchar
Erst gestern Abend habe ich auf der Bühne gesagt: „Was bedeutet ‚Zuhause‘? Wohin gehen wir, wenn unsere Träume wahr werden?“ Und morgen früh werde ich einen Mietvertrag unterschreiben. Für meine erste eigene Wohnung. Ein Ort, den ich zum ersten Mal zu Recht mein Zuhause nennen kann. Deshalb ist die Arbeit an „Die Häuslichen“ für mich sehr persönlich und wichtig. Ich empfinde sie als einen Austausch über ein Zuhause – nicht nur ein physisches, sondern auch ein inneres. Und darüber, ob diese Welt ein Zuhause für eine Frau sein kann.
In Kriegszeiten übernehmen ukrainische Frauen eine außergewöhnliche Verantwortung, während sie gleichzeitig für ihr Zuhause – ihr Land – kämpfen und es verteidigen. Für mich ist Feminismus hier keine Theorie, sondern die Erfahrung des täglichen Widerstands und Handelns. Wir haben es oft nicht als Feminismus bezeichnet, aber ukrainische Frauen haben immer etablierte Grenzen durchbrochen – in Wissenschaft, Kunst und Leben. In dem Stück untersuchen wir diese Beziehungen – zwischen Macht und Unterwerfung, Freiheit und Angst, Liebe und Kontrolle. Und vielleicht finden wir den Weg nach Hause.
Die deutsche Perspektive: Schauspieler Leon Brugger
Feminismus ist kein Nischenthema oder nur für Wohlfühlzeiten gedacht. Er geht alle an. In „Die Häuslichen“ mitzuspielen, heißt für mich: Sichtbarkeit weiblicher Perspektiven schaffen, erlebte Geschichten erfühlen und marginalisierte Lebensrealitäten zu politisieren. Ich möchte dafür sensibilisieren, dass Männlichkeit und Feminismus sich nicht gegenseitig ausschließen müssen, um ein Verständnis für ein Miteinander entwickeln zu können. Das funktioniert besonders gut mit der dokumentarischen Anlage des Stücks.
Als deutscher Schauspieler liegt in der Zusammenarbeit noch eine zusätzliche Verantwortung für mich: das Miteinander im Spielen zeigen, trotz teils vorhandener Sprachbarrieren sowie das Tolerieren neuer Arbeitsumstände – die für meine ukrainischen Kolleg:innen bereits zum Alltag werden mussten. Welche Körperlichkeit nehmen wir als Träger von Geschichten anderer ein? Welche Rolle spielt Herkunft? Was kann die eigene Sprache ausdrücken und was kann nur auf Ukrainisch gesagt werden? Worüber wir sprechen, verstehen alle.
Malin Kraus ist als Regisseurin wie Journalistin tätig. Sie promoviert aktuell an der HU Berlin zum Thema „Zeitlichkeit“ in Neuerer deutscher Literatur. Sie ist Teil des Spontankollektivs working girls und gibt gemeinsam mit Rahel Bueb den „DISPUT“, ein Magazin für Literatur, Journalismus und Fotografie, heraus. Im Januar 2026 zeigt sie das Stück „Latexstudien I-IIII“ am Pathos Theater München zu Münchner Arbeiterinnenschaft.
Vira Hanchar ist Lehrerin und Schauspielerin, u.a. im Ensembles des Lesi Theaters in Lwiw. Sie engagiert sich außerdem in freien künstlerischen Projekten, die sich mit den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auseinandersetzen.
Leon Brugger ist Schauspieler mit Sitz in München und Berlin. Er spielte zuletzt in der bayerischen Produktion „Hundswut“ vor der Kamera. Gerade probt Leon das Theaterstück „Latexstudien I-IIII“, das im Januar 2026 am Pathos Theater in München uraufgeführt wird.