Kritik

„Lampenfieber“ am Friedrichstadtpalast Berlin

Dezember 2020

Foto oben: Gebrüder Beetz Filmproduktion
Beitrag von: am 29.12.2020

Junges Bühnenglück

Am Anfang steht der Casting-Aufruf. 280 Kinder und Jugendliche sind im jungen Ensemble des Berliner Friedrichstadtpalastes in Ausbildung, 30 Darstellende zwischen sechs und sechzehn Jahren werden pro Jahr aufgenommen. Fünf von ihnen begleitet der Dokumentarfilm „Lampenfieber“ vom Casting bis zur Premiere.

Mit rotem Lichtgewitter bricht auf der Bühne der Vulkan aus. Die Bühnenelemente schieben sich auseinander, dazwischen tun sich unheilvoll leuchtende Abgründe auf. Große Kindergruppen tanzen dazu: Steinzeitmenschen mit Keulen in der Hand, Cowboys, Cowgirls, und Indianer. Bevor es so weit war, lag ein langer Weg vor dem jungen Ensemble des Friedrichstadtpalastes. Das Musicals „Spiel mit der Zeit“, das im Herbst 2017 Premiere feierte, ist ausschließlich mit Kindern und Jugendlichen besetzt. Die Dokumentation darüber war am 27.12. im Ersten zu sehen und begleitet den gesamten Probenzeitraum des Musicals.

Beim offenen Casting im Februar steht die ganze Turnhalle voller Kinder. Unter den kritischen Augen der Direktorin des jungen Ensembles, Christina Tarelkin, tanzen sie eine Choreografie nach. Die Tanzlehrerin achtet auf Ausdruck und Musikalität der Kinder. Später müssen sie noch ihre gesanglichen und schauspielerischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. „Ihr seid doch alle nur neidisch. Weil ich nämlich berühmt werde und ihr seid nicht berühmt!“, faucht die 14-jährige Amira bei einer Improvisationsübung. Die Jury ist sichtlich beeindruckt. Dann wird erbarmungslos aussortiert. „Die Nummer acht? Hat Potential, aber nein, das ging gar nicht“, urteilt Tarelkin. Enttäuschte Kindergesichter, Tränen fließen. Einige wenige dürfen sich am Ende freuen, und strahlen, als sie erfahren, dass sie angenommen sind – zuerst nur auf Probe.

Amira sitzt später mit ihrer Mutter am Küchentisch und blättert durch ein dickes Buch, der Text von „Spiel mit der Zeit“. Am PC ruft sie dann die RTL-Mediathek auf und zeigt stolz auf das Titelbild der Sendung „Alarm für Kobra 11“. „Das ist mein Papa!“, sagt sie. Manchmal darf sie mit ihm ans Set und auch selbst kleine Rollen übernehmen. Am Friedrichstadtpalast wird sie später mit ihrer Mutter zum Gespräch gebeten. Sie fehlt zu oft beim Schauspieltraining, kommt beim Tanzen nicht mehr mit. „Da muss man dann überlegen, ob das nicht zu viel wird“, warnt Tarelkin. Am Ende verfolgt Amira die Premiere nur vom Zuschauerrang aus. Auch andere Ensemblemitglieder haben Schwierigkeiten, Schule, Freunde, die Probenarbeit, und andere Hobbies unter einen Hut zu bringen. Die 9-jährige Maya spielt zusätzlich noch Geige, der 13-jährige Oskar hat einen YouTube-Kanal, für den er morgens vor der Schule noch Videos produziert. Die Theaterleitung warnt: „Schon ein weiteres Hobby kann das ganze hier massiv gefährden“.

Aber das Ensemble gibt auch Halt. Die 16-jährige Alex spielt eine der Hauptrollen im Musical. „Meine Mutter hat mich damals einfach bei einer Musicalgruppe für Kinder angemeldet“, erinnert sie sich an ihre Anfänge. Als sie 14 war, verstarb ihre Mutter, aber Alex‘ Liebe zum Musical ist geblieben. Am Friedrichstadtpalast hat sie viele Freunde gefunden, die ihr auch helfen, über ihren Tod hinwegzukommen. Auch Luna hat einen familiären Bezug zum Musical. Ihre Oma war früher Tänzerin im Ballett des Friedrichstadtpalastes und arbeitet heute in der Kostümabteilung. Zusammen schleichen sich Oma und Enkelin in den Backstage-Bereich einer Aufführung. Lunas Augen strahlen, als sie zuschaut, wie die Tänzerinnen in Reih und Glied synchron die Beine in die Luft schwingen. „Magst du so was später auch machen?“, fragt die Oma. Luna zuckt mit den Schultern. „Weiß noch nicht“. Früh müssen sich diese Kinder darüber klar werden, was sie wollen. Auch die 9-jährige Maya hat in den Proben nachgelassen und wird zum Gespräch gebeten. „Wo siehst du dich in zwei Jahren?“, wird sie gefragt. „In der ersten Reihe? Oder in der dritten?“ Maya ist die Frage unangenehm. „Keine Ahnung…“. „Das ist schlecht“, heißt es daraufhin. Sie wird aufgefordert, mehr Ehrgeiz und Selbstbewusstsein zu zeigen. Das junge Ensemble soll in dem achtmonatigen Probenzeitraum höchste künstlerische Qualität entwickeln. Doch gleichzeitig sind es ganz normale Kinder. Die Balance zwischen Leistungsdruck und Menschlichkeit scheint da nicht immer leicht zu fallen.

Mit den Endproben steigt schließlich noch einmal die Aufregung auf allen Seiten. Einige Kinder und Jugendliche haben immer noch Texthänger. Die Regisseurin schüttelt verzweifelt den Kopf und bricht den Durchlauf ab. „Ich bin aufgeregter als die Kinder. Ich fieber‘ richtig mit“, sagt sie schließlich kurz vor der Premiere. Das Publikum ist voller stolzer Eltern und Kinder, die aufgeregt auf ihre Geschwister auf der Bühne zeigen.

Die Dokumentation wirft einen spannenden Blick hinter die Kulissen einer Musicalproduktion. Sie zeigt eindrücklich, welch große Herausforderungen das junge Ensemble überwinden muss, um eine professionelle Produktion auf die Beine zu stellen. Nicht zuletzt vermittelt „Lampenfieber“ aber deren große Spielfreude und lässt auch die Zuschauenden die Magie der großen Bühne spüren. So macht der Film noch einmal mehr deutlich, was wir derzeit schmerzlich vermissen und worauf wir uns hoffentlich im neuen Jahr freuen können.

„Lampenfieber“ (Regie und Buch: Alice Agneskirchner, Produktion: Christian Beetz) feierte bei der Berlinale 2019 Premiere, wurde am 27.12.2020 erstmals im TV gezeigt, und ist noch bis zum 26. Januar in der ARD-Mediathek abrufbar.

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