Ella Rendtorff „Alles ist gut, solange du wild bist.“ Wild sein, das bedeutet Fußball, Liegestützen, Emotionen unterdrücken – oder sie am besten gar nicht erst zulassen. Kurz: Mann sein. In „Call me Daddy (,) oder rettet die Zärtlichkeit“, einer Produktion des Max Reinhardt Seminars unter Regieführung von Nele Christoph, geht es um patriarchale Männlichkeit und die Frage, ob sie sich verlernen lässt. Gibt es eine Gebrauchsanweisung für Intimität? Und sind Soft Boys wirklich so feministisch, wie ihr zartes Aussehen vermuten lässt? In Nele Christophs Inszenierung im Wohnzimmer-Setting stellen sich drei junge Schauspieler (Crispin Hausmann, Kaspar Maier und Simon Schofeld) ihrer männlichen Sozialisierung in einer Gesellschaft, die noch immer in den Macht-Scharnieren der Väter verankert ist.
Merle Zils Die grausame Realität des Patriarchats zeigte eine andere Inszenierung wenige Stunden zuvor. Bevor es losgeht mit „Nichts, was wir unser Eigen nennen können, nur den Tod“, liegt etwas in der Luft. Nicht nur Nebel wabert aus dem Theatersaal, auch eine Vorahnung, dass die nächste Stunde „nicht schön“ wird, wie es Regisseurin Nina Vedova bereits bei der Einführung angesagt hatte. Eine Vorahnung auf das Leid, das die Zuschauerin wird sehen müssen und auf dieses Gefühl tief im Inneren, das pocht und wehtut und schreien will: Wut. Die Inszenierung mit diesem wundersam langen Titel (ein Shakespeare-Zitat aus Richard III.) thematisiert Grausamkeiten, die Frauen tagtäglich in unserer Gesellschaft erleiden und die dennoch selten so benannt werden: Femizide. Zu Grunde liegt die Idee, drei shakespearschen Frauen-Figuren mehr Raum zu geben, die furchtbare Qualen durch Männer erleiden mussten: Cordelia in „König Lear“ auf verbaler, Ophelia in „Hamlet“ auf psychischer und Lavinia in „Titus Andronicus“ auf körperlicher Ebene. Sie sind Stellvertreterinnen. „Unsere Namen spielen keine Rolle, weil wir viele sind. Es geht nicht um uns“, sagen sie zu Beginn. Drei beeindruckende Darstellerinnen (Theresa Gmachl, Ruth Habart, Mariia Soroka) erzählen schonungslos ihre und andere Geschichten, die nachhallen. Vor allem jene, die nicht fiktiv sind. Denn zwischen den Shakespeare Texten sprechen sie für aktuelle Betroffene patriarchaler Gewalt. Momente, in denen der Raum still ist – wie ein kollektives Atem-anhalten.
Ella Rendtorff Still wird es in „Call me Daddy“ selten – weil Männer Lärm machen. Sie tragen Fußballtrikots in rot, grün, weiß, weil sie Fußball mögen. Weil ihre Väter Fußball mögen. „Echte Männer weinen nicht“ und falls doch, dann nur, wenn ein Tor fällt. Denn das Patriarchat lässt keinen Platz für Männer, die nicht nach AXE-Deo riechen und mit geballten Fäusten „power Baby!“ im Sprechchor rufen. Der Druck, einem heteronormativen Männlichkeitsbild entsprechen zu müssen, fängt schon auf dem Pausenhof an. Aber wer trägt die Verantwortung für ein System, das von Generation zu Generation auf Unterdrückung beruht? Die Antwort in „Call me Daddy“ lautet: die Väter. Es sind vor allem diese persönlichen Momente, gesprochen aus eigener Erfahrung, mit denen die Inszenierung im Kopf bleibt: „Ich erinnere mich an das Gefühl der Schuld, nie dem entsprechen zu können, was du von mir erwartest, Papa“, heißt es im Stück. Und weiter: „Ich erinnere mich, wie ich meine Mutter Hure genannt habe“, erzählt einer der drei Spieler, erschrocken über sich selbst – und verlässt den Raum.

Merle Zils Der Raum wurde in der Salzburger Inszenierung anders gedacht. Es gibt keine Kluft zwischen Publikum und Bühne, kein Abstand, der eine:n distanziert von dem, was dort geschieht. Stattdessen sitzt das Publikum in zwei Reihen um ein silbernes, quadratisches Podest herum, nur getrennt durch einen milchigen, fast durchgängig geöffneten Vorhang. So schafft Bühnenbildner Simon Huber einen Raum, der außerhalb von Ort und Zeit besteht, verstärkt durch tiefe Bässe und flackerndes Licht. Es schreit: Wir dürfen nicht die Augen verschließen! Denn in der Realität gibt es kein Entrinnen vor patriarchaler Gewalt. Das bekommt das Publikum auch zu spüren durch diverse Flüssigkeiten, die sich die Frauen auf der Bühne als Zeichen absoluter Erniedrigung übergießen. Schwarz wie Schlamm, weiß wie Sperma und rot wie Blut. Sie spritzen auch auf das mit Ponchos eingekleidete Publikum. Als die Darstellerinnen die Bühne verlassen und drei Männer aus dem Publikumerst nach Dates fragen, dann schließlich belästigen und beschimpfen, gibt es endgültig kein Entkommen aus der Thematik mehr – und jede Frau im Publikum denkt in diesem Moment wahrscheinlich das gleiche.
Ella Rendtorff Gibt es einen Ausweg aus dieser Gewaltspirale? Kann Mann nicht versuchen, die erlernten Muster der Unterdrückung zu durchbrechen? Vielleicht hilft ein Anruf bei den Vätern, schlägt Nele Christophs Inszenierung vor. Aber Moment, das könnte ja emotional werden – deshalb doch lieber per Sprachmemo. Was wir dann über Lautsprecher hören, sind Väter, die ihren Söhnen von ihren Lieblingssongs erzählen, in Erinnerungen schwelgen, sentimental werden. Und die drei Jungs auf der improvisierten Bühne, um die das Publikum im Halbkreis sitzt, wagen sich sogar noch einen Schritt weiter: sie üben Zärtlichkeit. Auf einer ausgebreiteten Kuscheldecke nähern sie sich einander an und in der Luft liegt der süße Geruch von Früchtetee, der vorher liebevoll gemeinschaftlich gekocht wurde. Schön wär’s. Aber gibt es diesen Feelgood-Feminismus wirklich, außerhalb des selbst erschaffenen Kosmos weichgespülter Indie-Boys?
Merle Zils Keine Kuscheldecke schützt eine Frau vor patriarchaler Gewalt. Frauen werden aus Fenstern gestoßen, verstümmelt, bespuckt, bedroht, angezündet, vergewaltigt. Und auch wenn es berührende Momente sind, in denen sie sich halten, sich auffangen, in denen eine der anderen das Gesicht wäscht, ihre Kleidung auswringt, so sagen sie es doch selbst: „Mein Wir ist geschwächt“. Und als die Darstellerinnen schließlich am Ende den Raum verlassen, verdreckt und durchnässt von dem, was die Gesellschaft ihnen angetan hat, haben sie auch keine Lösung für das Problem. Vielleicht braucht es dafür nicht nur Zärtlichkeit, sondern auch Wut.

Merle Zils. Foto: privat
Merle Zils, geboren 2001, ist in Norddeutschland aufgewachsen, studierte Medienwissenschaften im Bachelor in Hamburg und macht nun ihren Master in Kulturjournalismus an der Hochschule für Musik und Theater in München. Sie schreibt gern über Theater, Musik und Popkultur für die Junge Bühne, den schleswig-holsteinischen Zeitungsverbund und ab Sommer für die taz. Am liebsten beschäftigt sie sich mit Kultur, die gesellschaftliche Diskurse aufgreift und anstößt.
Ella Rendtorff. Foto: privat
Ella Rendtorff, geboren 2000 in München, hat Literatur- und Politikwissenschaften in Berlin studiert. Aktuell macht sie ihren Master in Kulturjournalismus an der Hochschule für Musik und Theater München und schreibt nebenher für die Süddeutsche Zeitung und Theater heute. Am liebsten ist sie dort, wo es eine Bühne und gute Gespräche gibt. Die letzten drei Jahre hat sie an der Vagantenbühne Berlin nicht nur viel Zeit verbracht, sondern auch einen Theater-Podcast produziert.